FRONTPAGE

«Brief in die blauen Schweizer Berge»

Von Dagmar Just

Lieber Freund
Vielleicht tröstet es Ihre von Berlin träumende Tochter, dass das Leben hier zwar schneller, aber keineswegs glücklicher ist als im kleinsten Emmentaldorf oder wo immer Sie wollen. Gewiss: Berlin ist gross, chaotisch, angeblich sexy und sicher auch hip.

 

Vor allem aber ist es voll. Alles drängt von überall zusammen, selbst die Hunde, obwohl die Luft schlecht ist; und obwohl in den meisten Biergärten immerfort von «Durchbruch», grossem Geld und Glück die Rede ist, häufen sich schon bei den 30-jährigen die Geschichten vom Scheitern. 
Die Stadt ist eine Falle, ein Schwamm, der alles, was keine Widerhaken hat, aufsaugt und neutralisiert.

 

Allerdings werden die Steuergelder prachtvoll verbaut, zwischen den aufgehübschten Mauerresten wachsen die Türme von Babel und die Megalomanie blüht wie Bergalmen im Sommer.

In manchen Vierteln sind alle jung, wer älter ist, wird in die «No-Go-Areas» oder Stadtrandgebiete entsorgt. Dafür sind schon die Kitakinder markenbewusst und auf den Spielplätzen kursiert ein Slang, bei dem selbst Bukowski rote Ohren kriegen müsste.

 

Wünsdorf, wo früher die Russen sassen, gilt heute als Mekka der neuen Partyschickeria mit Bunkerbesichtigung, Ostbuchantiquariaten und schattigen Cafés mit Kasernenambiente. 
Die jungen Russen wissen nichts mehr von Nabokovs Charlottengrad, sie wohnen in Berlin-Mitte, wo die Mieten am höchsten, die Autos am teuersten und die Menschen am lautesten sind.

 

Mit Moskau teilt Berlin heute wie mit New York, glaube ich, nur noch das Chaos, die Kälte, den Oberflächentaumel, die Vergnügungshysterie; ein fröhlich apokalyptisches Lebensgefühl, vielleicht wie damals, vor dem Zweiten Weltkrieg.

 

Ein idealer Ort für ein paar Tage oder Wochen, zu Besuch, auch, um zu studieren und danach umso lustvoller nach Hause in die Berge zurückzukehren.

 

Klug und glücklich, wer sich so ein Zu-Hause gebaut hat. Jeder, der bei Verstand ist und weiss, was Lebensqualität sein kann, wird diese Stadt eher früher als später wieder verlassen. 
So gesehen, stelle ich mir Ihr Leben weniger idyllisch als auf altmodische Art tief und ‚richtig‘ vor, die einzig vernünftige Art, sich wenigstens dem fremden Wahnsinn zu entziehen.

 

«Menschlicher Tätigkeiten entsinne ich mich,/ Tätigkeiten sind es des «Wasserschöpfens» /, heisst es in einem Gedicht von Gabriela Mistral.

 

Ich glaube, dass die ironische Aura der biedermeierlichen Lebensorganisation viel zu tun hat mit Neid, Einflussangst, mangelnder Demut und einer aggressiven Glücksunfähigkeit der in den Städten aufeinanderhockenden Intelligenzia; hätte Marx sich mit der gleichen Intensität für die Gesundheit seiner Kinder interessiert wie für seinen Hass auf die Bourgeoisie, er hätte sein «Kapital» sicher, wenn überhaupt, anders geschrieben.

 

Übrigens zitierten sie heute morgen in einem Gedenkblatt für Wilhelm Raabe dessen Satz «Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute». Sie sehen, Sie haben überall Verwandte.

 

Ich wünsche Ihnen ein schönes Frühlingswochenende und grüsse Sie so gern wie herzlich in die blauen Berge

Ihre Dagmar Just

 

Dagmar Just lebt und arbeitet als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Berlin.

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