FRONTPAGE

«Blochers Schweiz auf dem Prüfstand»

Von Thomas Zaugg

 

Ist Christoph Blocher «weder Unschweizer noch Urschweizer»? Diese Frage stellt der Journalist Thomas Zaugg (*1985) in seinem Buch «Blochers Schweiz – Gesinnungen, Ideen, Mythen». In den letzten dreissig Jahren vollzug sich in der Geschichtswissenschaft eine Wende, die die Rolle der umzingelten, wehrhaften Schweiz kritisch hinterfragte. In den 1990er-Jahren wurde Christoph Blocher als Vertreter seiner Schweizerischen Volkspartei, der rechtskonservativen SVP, populär. Literatur & Kunst bringt exklusiv einen Auszug aus dem brisanten Buch, NZZ-Verlag, 2014.

 

Anlässlich seiner Buchvernissage «Blochers Schweiz» hatte Thomas Zaugg am 11. April 2014  Christoph Blocher, Elisabeth Michel-Alder, Robert Nef, Georg Kohler und Remo Largo ins Neumarkt Theater eingeladen. Eine Gesprächsrunde, die ausführlich die 68er-Generation diskutierte, der Christoph Blocher verständnislos – «was wollten sie?» – gegenüberstand. Die junge Generation war auf dem Podium nicht vertreten, wichtige Fragen kamen nicht zur Sprache: Warum will Christoph Blocher die Bilateralen aufs Spiel setzen? Sind über 120 Verträge jetzt einfach Makulatur? Zu diesem Thema äusserte sich Blocher früher sibyllinisch: «… wir kündigen die Verträge nicht, die anderen werden das auch nicht tun». Das ist paradox. Kann die Schweiz erwarten, dass, wenn sie die Verträge der Freizügigkeit nicht einhält, die Mitgliedstaaten der EU das akzeptieren werden? Mit immer neuen Nebelpetarden wie ‚Kolonialvertrag‘, ‚fremdes Recht übernehmen‘ versucht die SVP, die Beziehungen zur EU zu torpedieren. Mit welchem Ziel? Will Blocher eine Retro-Schweiz, autoritär und autoritätshörig? Auf der anderen Seite, warum wurden die begleitenden Massnahmen zur Einwanderung vom Bundesrat nicht verschärft und kontrolliert? Was heisst Unabhängigkeit und Freiheit, wovon und wofür? Was heisst Neutralität und wie ist sie heute zu definieren, die als Grundhaltung auch in Teilnahmslosigkeit und Gleichgültigkeit abdriften und sich nicht zuletzt in geringer Stimmbeteiligung manifestieren könnte.

Hierzu noch ein Buchtipp: Ernesto Laclau/Chantal Mouffe «Hegemonie und radikale Demokratie»: der vor kurzem verstorbene Philosoph nannte Neologismen wie beispielsweise die Masseneinwanderung «leere Signifikanten», die sich nach Belieben mit unterschiedlichen Vorstellungen und Projektionen füllen lassen. Wer am besten und geschicktesten damit spielt, erreicht gemäss Laclau eine «Hegemonie», das heisst eine zeitlich begrenzte Form von Herrschaft, die für demokratische Systeme typisch sei. 

 

 

Motivationen und Irritationen
Thomas Zaugg wirft in seinem Buch die Frage auf, ob die Urgründe im elterlichen Pfarrhaus und in der Theologie liegen, die die Motivationen für das überholte Réduitdenken Blochers (*1940) sein könnten, womöglich ebenfalls eine nicht gelungene Ablösung von der Väter-Generation? Ein Thema als vorherrschende Motivation sind die kollektiven Ängste vor dem Fremden, vor den Anderen, vor der Konkurrenz. Blocher spielt geschickt mit den rhetorischen Schlagworten der Masseneinwanderung, die lifestylemässig als Dichtestress deklariert wird. Wochentags ist beispielsweise die Zürcher Innenstadt, der grössten Schweizer Stadt, abends wie ausgestorben, da es kaum noch bezahlbare Mietwohnungen in der City gibt. Eine Folge der Immobilien-Spekulation, die kaum im Fokus steht. Die Diskussion über die Problematik der Einwanderung hat nach der Abstimmung noch nicht begonnen, wogegen für die Zukunft bereits Weichen gestellt wurden, die schwierige Verhandlungen implizieren. Hier die Aufwiegler, die Nachteile abwiegeln, dort die Bittsteller, die das Land nicht ins Abseits befördern wollen. Nach Aussagen des Wirtschaftsamtes SECO werden in den nächsten Jahren etwa eine Million Arbeitnehmende aus Altersgründen ausscheiden, jedoch nur durch etwa eine halbe Million Berufstätige aufgrund der demographischen Entwicklung ersetzt werden können. Das Land ist nach wie vor nachhaltig auf qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Dieses Buch ist ein Weckruf und trägt zur nötigen Diskussion über die Definitionsmacht bei, die Rolle der Schweiz in Europa, ihre Nachbarn und ihre Zukunft.      

 

Ingrid Isermann                                                                                                           

Nachtrag: Am 9. Mai gab Christoph Blocher seinen Rücktritt als Nationalrat per 31. Mai bekannt. Im Parlament verschwende er nur seine Zeit, weil der Ratsbetrieb so bürokratisch geworden sei. Er wolle sich im Kampf gegen die EU engagieren, die Schweiz dürfe ‚kein fremdes Recht’ übernehmen. Blocher steigt also in die Hosen und sieht sein Erbe (nicht in die EU) durch die bevorstehende Bilateralen-Abstimmung schon gefährdet. Da steht dem Schweizer Stimmvolk einiges an Provokationen bevor. Dem Bundesrat ist nur zu raten, möglichst im gleichen Stundentakt ebenfalls Comuniqués zur Lage der Nation herauszugegeben, damit die Situation für die Stimmbürger nicht vollends unübersichtlich und einseitig wird. Denn für Blocher ist alles, was mit der EU zusammenhängt, abzulehnen und auszugrenzen. Doch der Schweiz geht es gut. Auch dank den Ausländern. Punkt. Und ob sich langsam der grosse Zampano nicht so verrennt, dass er zur tragischen Figur eines Don Quichotte wird? Wer weiss der Hafenkran in Zürich ist immerhin angetreten, um die Sehnsucht nach der Weite, dem Meer und der Fremde wachzuhalten. Ahoi!
Blochers Schweiz behandelt nicht die Politik, sondern die geistigen Hintergründe eines konservativen Provokateurs: Der Unternehmer Christoph Blocher zählt zu den einflussreichsten Schweizer Politikern der vergangenen Jahrzehnte. Blochers Schweiz erklärt den Aufstieg der nationalkonservativen Bewegung aus der Mitte der alten Landeskultur. Das Buch plädiert für eine veränderte Sicht auf jene politische Haltung. In der Krisenzeit der 1930er-Jahre fanden Bürgertum und Sozialdemokratie in einer mythischen Mitte zusammen. Der St. Gotthard – drei Flüsse, drei Kulturen des Abendlandes – galt allen als der Berg der Einheit in der Vielheit. Im Zuge des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels brach dieser kleinstaatliche Konsens in den 1960er-Jahren auf. Doch dem Vakuum jahrzehntelanger militärischer, wirtschaftlicher und geistiger Landesverteidigung entsteigen die alten Mythen heute neu.

 

 

 

AM ENDE DER GESCHICHTE

Von Thomas Zaugg
Anstelle einer These ging dieses Buch einer Geschichte nach, die in den 1930er-Jahren begann. Der St.Gotthard diente damals in Bundesrat Etters Kulturbotschaft als Symbol des überparteilichen Zusammenhalts. Seine Ströme sollten die Kulturen der Schweiz in den Krisenjahren zusammenführen, wenn auch keineswegs vermischen. Haben geistige Landesverteidiger den Boden bereitet, ein Vakuum für die heutige nationalkonservative Rechte erzeugt, indem sie auch im Kalten Krieg noch suggerierten, der Sonderfall des wehrhaften, opportunistischen Kleinstaats sei ein Erfolgsmodell mit Zukunft?
Dies zu vermuten bedeutet nicht, die Rhetorik dieser Männer anzuerkennen oder zu verunglimpfen. Seit den 1930er-Jahren haben sie den Traum von einem Viervölkersprachenstaat im Kleinen geträumt. Der Literaturprofessor Karl Schmid kann so gelesen werden – und der junge Christoph Blocher verstand ihn so als Student –, als führe die unermessliche Kleinheit der Schweiz bei ihren Bürgern zu einem Unbehagen, das sie um des eigenen Seelenfriedens willen innerlich zu bekämpfen hätten. Tells gewaltiger Tritt war Schmid 1939 wichtiger als die Menschenrechte. Der Rechtsprofessor Hans Nef konnte in den 1960er-Jahren in seinen Vorlesungen so interpretiert werden, als setzte er das Volksrecht über das Völkerrecht, ja als warnte er überhaupt vor jedem neuen Gesetz – vor einer Gesetzesinflation. Aus Georg Thürers helvetischen Dichtungen sprach die Hochschätzung der Neutralität und da und dort die Warnung vor einem unmässigen Zustrom fremder Einflüsse auf die schweizerische Kultur und Sprache. Der Publizist und Politiker Peter Dürrenmatt – auch er ein geistiger Landesverteidiger und kalter Krieger bis zu seinem Rücktritt aus dem Nationalrat im Jahr 1979, der mit Blochers Wahl zusammenfiel – sehnte sich zeitlebens nach einer echt konservativen Partei. Eine reformierte BGB sollte der steigenden Staatsquote, dem schleichenden Sozialismus entgegenhalten. Emil Egli, der angesehene Kulturgeograf, widmete sich in seinen Schriften dem wissenschaftlichen Nachweis einer Verbindung von Mensch und Landschaft: Man sei so wie das Dorf, aus dem man stamme – ein auf Wurzeln besinntes Denken, das in heutiger Zeit wiederkehrt. Soweit die Parallelen zwischen Blochers Schweiz und einem Ausschnitt der letzten 80 Jahre Schweizer Intellektuellengeschichte.
Diese Mitte der Schweiz hielt sich seit den 1970er-Jahren im Untergrund und feiert heute ihre Rückkehr. Christoph Blocher, mit wachsender finanzieller Macht, in Ermangelung echter Gegner, hat in vielen Bereichen nur ausgeführt und ins Extrem gesteigert, wozu er sich von Inspiratoren beauftragt fühlte. Hier weist das vorliegende Buch eine fast unerträgliche Tendenz auf, indem es sämtliche Gehalte geistiger Landesverteidigung nach Spuren der späteren nationalkonservativen Bewegung absucht.
Natürlich war Georg Thürer, davon abgesehen, ein früher UNO- Befürworter. Er träumte von einer europäischen Friedensgemeinschaft, stimmte für den EWR-Vertrag, während Blocher denselben mit alten Schriften Thürers bekämpfte. Doch auch wenn der Bogen vom friedfertigen Geschichtsschreiber und Dichter Thürer, vom staatsgläubigen Katholiken Etter zum wirtschaftsliberalen Protestanten Blocher weit überspannt ist, teilten sie doch dasselbe Bekenntnis zum Vaterländischen, standen sie in derselben konservativen Landesmitte. Alle pilgerten sie 1965 einmütig nach Marignano.
Warum hat man diese Zusammenhänge kaum betont? Warum sieht eine breite Öffentlichkeit in Blocher entweder den Urschweizer oder den Unschweizer? Warum hat man die Blocherianer in den europäischen Populismus verbannt, statt ihr Bekenntnis zu einer alten, etwas selbstgenügsamen Schweiz zu diskutieren?
Kritik an diesem Modell gab es gewiss genug. Seit den frühen 1960er-Jahren verabschiedeten Gelehrte, Schriftsteller und Politiker, was sie unter geistiger Landesverteidigung zusammenfassten. Während es Etter und die Seinen – mit dem noch unbekannten Blocher – nach Marignano zog, zeigten andere Söhne – Peter Bichsel, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Adolf Muschg sind nur die bekanntesten – die Defizite des schweizerischen Lebensentwurfs auf. Aus ihrer Sicht grenzte es an Stumpfsinn, mit Emil Egli von Wurzeln zu reden in einer technisierten, sich öffnenden Welt. Es war unzutreffend, von Unabhängigkeit zu reden, war man doch geschützt durch die NATO in einer von den USA und der Sowjetunion im Gleichgewicht des Schreckens gehaltenen Welt. Und war es nicht zu einfach, mit Georg Thürer von schweizerischer heroischer Neutralität zu reden, war man doch gezwungenermassen ein Waffenfabrikant für NS-Deutschland, ebenso dessen Finanzplatz und ein Verwalter jüdischer Gelder gewesen?
 In Blocher fand sich eine allzu bereite Märtyrerfigur, auf die in den 1990er-Jahren die Schatten der eigenen Vergangenheit geworfen werden konnten – Eigennutz, Xenophobie, Volksverhetzung. Blocher selbst hat sich in dieser unterstellten Rolle als neuer Frontist nicht nur unwohl gefühlt. Er war nie der Vertreter des schweizerischen Konsensdenkens gewesen. Ein 68er von rechts, brüskierte er die gleichaltrigen neuen Linken und die alten Eliten mit offener Diskussionsbereitschaft. Eine Lust zur Gegenprovokation, die im politischen Alltag nicht immer mit Lösungsbereitschaft zusammenfällt.
Als ein konservativer Provokateur, als ein protestantischer Prediger im Politikeramt hat sich Christoph Blocher lange vor den 1990er-Jahren einen Namen gemacht. 1968, im Grossen Studentenrat der Universität Zürich, hämmerte er mit seiner «Wirklichkeit» und dem «Volksgeist» auf die Träume der bewegten Mitstudierenden ein. Währenddessen deckten sie ihn mit Schimpfworten ein und bewarfen die geehrte Professorenschaft mit Joghurt – nur dann und wann schwiegen sie vor Blochers Wortgewalt. Die Reformatio liess den Pfarrerssohn später Kolumnen schreiben, um dem Blatt etwas Streitkultur zu geben. Wer Blochers damalige Stücke liest, dem stellen sich einige Verständnisfragen. Wie kann er die lautstarken Forderungen nach einem Weltfrieden zur Zeit der Friedensmärsche mit der «Wirklichkeit» der «Natur» ausschlagen, die nicht nur schön sei, sondern hart und unfair? Wie kann er glauben, dass sich Jugendliche, die in den 1980er-Jahren auf vielleicht spätpubertäre Weise mehr Freiraum fordern, nur mit religiöser Orientierung zufriedengeben? Wie kann er die Problematik der Geschlechterrollen mit dem Verweis auf die Bibel lösen, in der stehe, dass die Liebe die Struktur der – männlichen – Autorität habe?

Selbst wenn dies, wie Blocher erklärt, im lateinischen Wortsinn «Provokationen» sind, die damals etwas «hervorrufen» sollten, fragt man sich: Was sollen derartige Wortäusserungen Gutes hervorrufen? Ähnliche Fragezeichen ergeben sich aus dem theologischen Denken des zweitgeborenen Bruders, der vor 2007 durch einen Fernsehauftritt die Abwahl Christoph Blochers aus dem Bundesrat beförderte. Wie soll man einem Soldaten, der nicht töten will, den Sinn von militärischer Ordnung und Disziplin erklären? Die Autoritätsgläubigkeit, wie sie in den Schriften des 1934 geborenen Gerhard Blocher zum Ausdruck kommt, lässt einen unverständig zurück. Und doch wurden seine Beiträge mitunter in der renommierten NZZ publiziert – neokonservative Lesarten der Schriften Karl Barths, raunende Abhandlungen über die Suche nach der Wortwurzel und den «Auftrag» Gottes.
Verschiedene Stränge dieser Geschichte wurden nicht zu Ende gedacht. Am Ende dieser kaum geglückten Genealogie konnte dennoch nur die Kindheit stehen. Auch sie ist wieder eine Geschichte, die ungeschriebene Geschichte einer 13-köpfigen Pfarrfamilie in Laufen am Rheinfall. Jedes der Kinder hat die Zeit im Pfarrhaus anders wahrgenommen, die Art des Vaters, die Weise der Mutter anders empfunden. Christoph mied die intellektuelle Auseinandersetzung. Er suchte lieber den zweitnächsten Bauernhof auf, um sich dort nützlich zu machen. Zum näher gelegenen Hof wollte er nicht, jener Bauer war zugleich Sigrist in der Kirche seines Vaters. Es brauchte einige Zeit – auch während der Landwirtschaftslehre noch –, bis die Bauern den aufgeweckten, aber allzu zarten Pfarrerssohn anerkannten. Spät erst fand er die heimatliche Erde und den Acker, seine Wirklichkeit.

 

Auszug aus: Thomas Zaugg: Blochers Schweiz © 2014 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich (mit freundlicher Genehmigung des Verlages).

 

Thomas Zaugg
Blochers Schweiz
NZZ Libro
230S., broschiert,
CHF 39.00
ISBN 978-3-03823-885-0

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