FRONTPAGE

«Wie lebt es sich mit Commissario Brunetti in Venedig?»

Von Ingrid Schindler

 

Jahr für Jahr strömen Millionen von Touristen nach Venedig, heuer zieht die «Biennale di Venezia 2015», mit Abstecher zum Schweizer Pavillon, noch zusätzlich Kunstinteressierte an. Nicht zuletzt sind es aber auch die in Venedig spielenden beliebten Krimis von Donna Leon, eignet sich doch Commissario Brunetti bestens als Guide. Der neueste Fall des Kommissars «Tod zwischen den Zeilen» dreht sich um einen florierenden Schwarzmarkt für Bücher.

 

«Wenn ich ein schlimmes Verbrechen anprangern sollte, wäre es nicht ein Banküberfall, da geht es nur ums Geld. Alte Bücher aber können nie mehr ersetzt werden». Donna Leon

 

In der Nacht ist es still am Canal Grande mit seinen 200 Palästen. Mit den ersten Strahlen der Sonne, welche die prächtigen Palazzi der berühmtesten Wasserstrasse der Welt frisch und feierlich erstrahlen lässt, beginnen die Vögel in den Baumkronen ihr Morgenkonzert, Kirchenglocken schlagen vereinzelt, erste Schritte hallen hart aus den engen Gassen zwischen hohen Hauswänden herauf. Allmählich tuckern Wassertaxis und kleine Lastkähne den 3,8 km langen Kanal hinauf: Bäcker, die Brot per Boot ausfahren, Bauarbeiter, Müllmänner, Postboten. Die ersten Vaporetti, Venedigs röhrende, stampfende Wasseromnibusse, durchpflügen den Kanal und kreischen laut im Rückwärtsgang an den Haltestationen auf. Morgens um acht bellt der erste Hund, vom Gondoliere ist noch nichts zu sehen und zu hören.
Es dauert nicht mehr lange, da kommen die Getränkelieferanten und Obsthändler mit ihren Booten in die Stadt. Und die Touristen. Gleichzeitig schwärmen Scharen von Taschendieben und -verkäufern und die «Klaukids» über die Calli und Campi aus. So nennt Donna Leon in «Das Mädchen seiner Träume» Zigeunerkinder aus dem Umland, von denen eines die Kinderarbeit mit dem Leben bezahlt. Commissario Brunetti und sein Kollege Vianello ziehen ein elfjähriges Roma-Mädchen auf der Höhe des Palazzo Benzon tot aus dem Wasser: Brunettis 17. Fall. Der plätschert relativ unaufgeregt dahin, denn „bevor eine Familie aus dem wohlsituierten Mittelstand in die Schusslinie“ gerät, unterbindet man «am besten alle Aufklärungsversuche». Der Fall wird, natürlich, trotzdem gelöst, und liefert dabei wie gewohnt eine Menge Anschauungsmaterial über das Leben in Venedig.

 

 

Insiderwissen
Schräg gegenüber vom Tatort wohnt Familie Brunetti im Quartier San Polo. «In der ARD-Verfilmung ist es die Wohnung mit der Loggia im Palazzo Barbarigo della Terrazza am Canal Grande», sagt Fiona Giusto, eine auf Literatur spezialisierte Stadtführerin. In Wirklichkeit befinden sich in dem Palast aus dem 16. Jahrhundert das Deutsche Studienzentrum für Venedig und neuerdings ein Hotel. Mit Spickzetteln mit Passagen aus allen Brunetti-Romanen gewappnet, führt Giusto durch das Venedig des Krimihelden. Dabei erzählt sie, dass Donna Leon kein Pseudonym, sondern der richtige Name der irisch-spanisch-stämmigen Amerikanerin ist, und dass niemand in Italien Commissario Brunetti kenne. «Die Romane wurden in über 32 Sprachen übersetzt, nicht aber auf Italienisch. Angeblich deshalb, damit sich die Signora unbehelligt in Venedig bewegen kann. Aber das glaubt hier keiner».
Fiona Giusto weiss sehr wohl, wo sich die Schriftstellerin und ihre Romanfiguren sowie echte Venezianer auf einen caffè corretto, prosecco oder un‘ombra con cicchetti, ein Glas Weisswein mit Häppchen, treffen. Trotz des Lamentos von allen Seiten, das Venezianische sterbe aus, sind so viele gute Adressen im Laufe der Jahre in den Romanen zusammengekommen, dass der Diogenes Verlag das Buch «Mit Brunetti durch Venedig» herausgegeben hat.
Marksteine der Brunetti-Touren bilden die Bar am Ponte dei Greci in Castello, das Stehlokal Do Mori, das älteste bacaro Venedigs, das sich im Gassengewirr um Brunettis Wohnung versteckt, die Gelateria am Campo Santo Stefano oder das Ballarin in Cannaregio, wo Donna Leon wohnt. Auch im Antico Dolo, Brunettis Lieblingslokal, oder im Antiche Carampane, beide abseits der Touristenwege in San Polo, oder im Corte Sconta in Castello kann man Einheimischen begegnen, die noch den Dialekt mit den typischen Zischlauten auf der Zunge haben. Und weil die fiktive Krimifamilie als waschechte Veneziani, von denen es laut Giusto nur noch 6000 unter den ca. 60‘000 Stadtbewohnern geben soll, auch zuhause gern venezianisch speist, hat der Verlag ein Brunetti-Kochbuch herausgebracht.
Als kunstbeflissener, belesener Bildungsbürger schätzt der Commissario nicht allein kulinarische, sondern auch kulturelle Kost. So kann er im «Mädchen seiner Träume» nicht etwa an der Chiesa San Cassiano vorübergehen, ohne Tintorettos Kreuzigung eingehend zu würdigen, und es kommen ihm immer wieder Passagen aus griechischen Dramen in den Sinn. Überhaupt vermittelt der Commissario auf seinen langen Wegen durch die Stadt erstaunlich viele Details aus Kirchenkunst, Architektur, Malerei und Literatur. Venedigs Oper La Fenice spielt in Leons Werk übrigens eine Schlüsselrolle: hier nahm die Erfolgsgeschichte ihren Lauf. Als die opernbegeisterte Lehrerin und Werbetexterin den Dirigenten von «La Traviata» in der Fenice miserabel fand, schwor sie ihrem Begleiter, den Dirigenten zu ermorden. Aus Leons Mordlust entstand das «Venezianische Finale», Brunettis erster Fall.

 

 

Mascaris Feigen
Donna Leons Romane kann man mögen oder nicht, doch eines muss man der Wahlvenezianerin lassen: Sie kennt die Stadt wie ihre Westentasche und weiss über venezianische Verhältnisse Bescheid. Venedig ist die eigentliche Hauptperson, um die ihre Fälle kreisen. Dem ganz normalen Alltag der Einheimischen, der angesichts der Lage in der Lagune schon beschwerlich genug ist, gilt die Sorge der Bestsellerautorin angesichts von 15 Millionen Touristen im Jahr, Tagestouristen noch gar nicht eingerechnet. Sie bringt dies zum Ausdruck, wenn sie Brunetti über „die Stände mit Schals, T-Shirts und Touristenkitsch“ am Rialto klagen lässt. «Pieros Laden zu seiner Rechten war der einzige, der noch Lebensmittel verkaufte: Alle anderen hatten auf irgendwelchen wertlosen Plunder umgestellt». Der Kommissar bemerkt, dass ihn «an Ständen, die früher frisches Obst vertrieben hatten, abgetrocknete Pasta, in Flaschen abgefüllter aceto balsamico und getrocknete Früchte in grellen Farben ankreischen» und Venedig unaufhaltsam seine Authentizität verliert.
Die Kriminalromane spiegeln die Realität: Die Bausubstanz verfällt, immer mehr Wohnungen werden unbezahlbar und zum Zweitwohnsitz. «Es gibt nur noch ein Kino in der Stadt, die Jungen ziehen weg», sagt Fiona Giusto; nicht mal für Drogendealer sei die überalterte Serenissima interessant, findet Leon, es gebe kaum noch kleine Handwerker, Lebensmittel- und Kolonialwarenhändler wie Mascari, bei dem schon Mamma Brunetti selig ihre Feigen kaufte. Bald werden «die Venezianer, wie die übrige Welt, ihre Vitamine aus dem Supermarkt beziehen müssen», stellt Brunetti ernüchtert fest. Auch in «Schöner Schein» geben Fischhändler ihre Marktstände auf, während sich Politiker über die steigende Zahl der Touristen ereifern und doch Konzessionen für weitere Fünf-Sterne-Hotels erteilen.
Kampflos überlassen die Venezianer das Feld den Fremden freilich nicht. So bittet man Auswärtige – im Gegensatz zu Einheimischen – in Kirchen zur Kasse und nimmt sie generell doch gern mit Wucherpreisen aus. Eine „abenteuerliche neue Variante der Touristenabzocke“ wende man, bei Passagieren auf vor allem amerikanischen Kreuzfahrtschiffen an: Man warnt sie davor, in Venedig einzukaufen oder essen zu gehen, weil sie übers Ohr gehauen würden und teilt den dankbaren Passagieren Listen mit vertrauenswürdigen Adressen aus, wo sie gegen Vorlage des Passagierausweises sogar zehn Prozent Rabatt bekämen. Mit den Quittungen veranstalten die Schiffsbesatzungen anschliessend an Bord Lotterien und kassieren tags darauf in denselben Geschäften und Restaurants ihrerseits zehn Prozent. Der Leser ist dank Guido Brunetti besser informiert. Er findet den Weg in ehrbare Restaurants und beschauliche Winkel der Stadt, wo er auf die aussterbende Gattung des echten Venezianers stossen kann. Wenn dann über Nacht Venedig weitgehend den Einheimischen gehört, bleibt ein richtiger Brunetti-Fan natürlich in der Stadt und geniesst ihre mystische Atmosphäre, die Donna Leon immer wieder so treffend beschreibt.

 

 

Venedig auf Brunettis Spuren


Frühling in Venedig, eine herrliche Pracht. Doch da wird Brunetti zu einem ungewöhnlichen Tatort gerufen, zu der altehrwürdigen Biblioteca Merula. Wertvolle Folianten liegen aufgeschlitzt da, und der amerikanische Forscher, der ein Dauergast war, ist verschwunden. Brunetti entdeckt eine eigenartige Welt: Er spricht mit Bibliotheksangestellten und Besuchern, mit einem ehemaligen Priester und der Contessa Morosini-Albani. Als es einen Toten gibt, weiss Brunetti, dass mehr auf dem Spiel steht. Mit grossem Gespür und ungewöhnlichen Methoden geht Brunetti dem Verbrechen auf den Grund und entdeckt einen florierenden Schwarzmarkt für Bücher.

«Er hatte gedacht, er würde die Bibliothek wiedererkennen, wenn er sie sah, aber nichts in dieser Gegend wirkte vertraut. Auch wusste er nicht mehr, ob der Palazzo Merulas Wohnsitz gewesen war, als er in Venedig gelebt hatte: Im Archivo Storico liesse sich das recherchieren, nicht aber bei der Polizeit, deren Akten keine tausend Jahre zurückreichten. (…)
Brunetti näherte sich der Treppe, deren breites Marmorgeländer in regelmässigen Abständen mit ananasgrossen Löwenköpfen verziert war. Zwei der Köpfe tätschelte er im Vorbeigehen. Auf dem Treppenabsatz verkündete eine Messingtafel neben der Tür: «Bblioteca Merula». (…)
Sie mochten jetzt Computer haben, die es zu seiner Studienzeit in den Bibliotheken nicht gegeben hatte, aber der Geruch war noch derselbe. Alte Bücher weckten in Brunetti stets die Sehnsucht nach Jahrhunderten, in denen er nicht gelebt hatte. Sie waren auf Papier gedruckt, hergestellt aus Lumpen die in Handarbeit zerkleinert, gestampft, gewässert, nochmals gestampft, zu grossen Bögen geschöpft, bedruckt, gefaltet und nochmals gefaltet, gebunden und genäht wurden: All diese Mühe, um aufzuzeichnen und festzuhalten, wer wir sind und was wir gedacht haben, sinnierte Brunetti. Er erinnerte sich, wie schön sie sich angefühlt hatten, vor allem aber erinnerte er sich an diesen leisen, aber unverkennbaren Geruch, mit dem die Vergangenheit ihn anhauchte». (Auszug).

 

 

Donna Leon

«Tod zwischen den Zeilen»

Diogenes Verlag Zürich, Mai 2015

277 S., geb. CHF

(auch als Hörbuch erhältlich,

ungekürzt gelesen von Joachim Schönfeld, 6 CD)

CHF 33.90

ISBN 978-3-257-06929-7

 

 

«Mit Brunetti durch Venedig» von Toni Sepeda (2008)

 

«Bei den Brunettis zu Gast» mit Rezepten von Roberta Pianaro

und kulinarischen Geschichten von Donna Leon sind ebenfalls bei Diogenes erschienen.

 

 

Anreise: Mit Swiss mehrmals täglich ab Zürich.

Übernachten: Hilton Molino Stucky auf Giudecca, www.molinostuckyhilton.com, gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, geräumige Zimmer, Shuttledienst; Ca’ Sagredo, www.casagredohotel.com, luxuriöses Palazzohotel am Canal Grande; Palazzo Barbarigo sul Canal Grande, www.hotelphilosophy.net, schönes, neues Palazzohotel bei Brunettis „Wohnung“; Charming House, www.dd724.it, verschiedene elegante B&Bs

Venezianische Küche: Corte Sconta: verstecktes Fischlokal in Castello; Cip’s Club im Cipriani auf der Giudecca: bestes Fritto misto di mare mit Blick auf den Dogenpalast, Shuttleservice; Riviera in Dorsoduro, gehobenes Restaurant am Zattere, „Venedigs schönster Flaniermeile“, so Brunetti; Do Mori in San Polo: ältester bacaro Venedigs; Dei Rossi: typischer bacaro in Dorsoduro; Skyline Bar: fantastische Aussicht vom Dach des Molino Stucky, tolle Drinks; Nico am Zattere: eine der besten Gelaterien, ebenso Rosa Salva am Campo San Giovanni e Paolo.

Info: www.turismovenezia.it. Brunetti-Führungen: Cooperativa Guide Turistiche, www.guidevenezia.it.

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