FRONTPAGE

«Britisch bis ins Mark»

Von Ingrid Schindler

 

Fergus Hendersons Philosophie des «Nose to Tail» hat in London Schule gemacht. Es lohnt sich, einen Besuch in dessen Restaurant St. John im ehemaligen Schlachthofquartier einzuplanen: Nirgends ist die britische Küche einfacher, ehrlicher und köstlicher.

«Smithfield Market ist nicht mehr», verkündete die Gartenlaube 1855. Dem damals meistgelesenen deutschsprachigen Blatt und Vorläufer der Illustrierten war die Verlegung des Londoner Schlachthofs und zentralen Viehmarkts von Smithfield nach Islington einen dreiseitigen Nachruf wert. Der «hässlichste aller Plätze Londons», das war nicht nur der Bauch von London, sondern auch der Ort, an dem sich die Stadt ihrer Verbrecher, Ketzer und politischen Gegner entledigte. «Ein historisch-klassischer Boden für die Kulturgeschichte Englands», wie die Gartenlaube in Ausgabe 7/1855 schrieb.

Über diesen Boden wurden Mitte des 19. Jahrhunderts jährlich im Schnitt 400’000 Rinder, 1’400’000 Schafe und entsprechend viele Kälber, Schweine und Lämmer getrieben. Dabei umfasste das Smithfield-Areal lediglich zwei Hektar. «Eine Kunst, die an Hexerei grenzte», befand die Gartenlaube, wenn dort nämlich «alle die ungeheuern Fleischmassen, welche London braucht, binnen wenig Stunden lebendig hineingetrieben, verkauft und durch unendliche Labyrinthe von Straßen, Wagen und Menschen wieder hinausgetrieben werden mussten».

 

 

Vom Blut reingewaschen

Wie in New Yorks Meatpacking District, Münchens Schlachthofviertel oder am Monte Testaccio, dem Metzgerhügel Roms, treibt das Leben zwischen den Londoner Underground-Stationen Farringdon und Barbican bunte Blüten: Die Strassen rund um den Fleischgrossmarkt sind zum Trendquartier geworden. Die Hallen der Schlachter stehen unter Denkmalschutz, geschlachtet wird hier seit 1855 nicht mehr.

Hinter Backsteinfassaden mit morbidem Kühlhaus-Charme haben sich stylische Hotels wie The Zetter, Szeneclubs, schicke Bars und populäre Restaurants etabliert. Ein einstiges Lagerhaus für Knochen und Karkassen an der Cowcross ist heute eine Bar, ein Meatpacking Warehouse an der Charterhouse Street ist renommiertes Restaurant und Institution in Sachen Fleisch (Smiths of Smithfields). Französische Cuisine und Cucina italiana wechseln sich mit Pubs, Wine-Bars und Imbisslokalen wie Butchers Hook & Cleaver, Lazybones, Kurz & Lang (gute Bratwurst) ab, und alle paar Häuserzeilen erhebt sich wieder ein anderer Tempel der Fleischeslust. The Grill on the Market etwa, für Aberdeen Angus und Longhorn Steaks bekannt, Gaucho Smithfield, wo argentinische Riesen-Rumpsteaks die Gäste glücklich machen, und erst das St. John in einem ehemaligen Smokehouse in der St. John’s Street, seit 20 Jahren Kultlokal im Zeichen des Schweins.

 

 

Schweinefuss und Ochsenschwanz
Das St. John ist ein Original, das Original. Weiss geflieste und getünchte Wände, clean, aufgeräumt, übersichtlich, hohe Decken, schwarze Lampen, Eisenträger, Chromstahltresen, schlichte Holztische und -stühle, nichts Verspieltes, keine Deko, keine Zier, die Atmosphäre steril wie in einer Wurstfabrik – und doch alles andere als das. Angenehm, appetit- und geistanregend, herzerwärmend, animierend. Gründer und Chefkoch Fergus Henderson, der 1994 mit seinem Geschäftpartner Trevor Gulliver das Lokal im Stadtteil Clerkenwell nahe des Smithfield Markets eröffnete, ist eigentlich gelernter Architekt. Das Kochen hat er nie gelernt.
Der Blick in die hauseigene Bakery ist offen, es duftet nach frischem Sauerteigbrot, Doughnuts und Madeleines. Gerüche wie zu Grossmutters Zeiten verlassen die Küche und überall, aber unaufdringlich, prangt ein lustiges, fliegendes Schwein, auf Postkarten, Schildern, Tüten, Taschen, Aschenbechern, Kochbüchern und T-Shirts, die die Fangemeinde kaufen kann.
Die Gerichte, die die Kellner aus der Küche tragen, sind unaufgeregt, schnökellos, altmodisch-unpopulär, fleischlastig, ja noch schlimmer: Innereien! Dermassen das Gegenteil von angesagt, dass sie schon wieder modern sind. Und britisch bis ins Mark. Buchstäblich.
Knochenmark mit Peterli – Roast Bone Marrow & Parsley Salad – ist Programm. Die Markknochen sind, wie das Schwein im Emblem, zum Markenzeichen des St. John geworden. Als einziges Gericht stehen sie vom ersten Tag an auf der zweimal täglich wechselnden Speisekarte. Was noch auf der Karte steht: Cook-a-leekie (Hühnersuppe mit Lauch) und Welsh Rarebits (Käsetoast), Pies und Puddings, Beans und Bacon, Wamme mit Linsen, Aal mit Speck und Pflaumen oder was sonst Mann und Geist ernährt. Soulfood made in Britain. Das, was britische Köche Marke Gordon Ramsey oder Jamie Oliver gerne meiden: Kalbshirn, Lammnieren, Blutwurst, Kutteln, Schweineohren, die zur Erbsensuppe übrigens ganz vorzüglich munden. Gerade das, was die heutige Genussgesellschaft als wertlos oder minderwertig links liegen lässt, behandelt Fergus Henderson mit Liebe, Achtung und Respekt.

 

 

«A simple idea, done well…»
Ochsenschwanz und Schweineohr gehen im St. John weg wie warme Semmeln. «A kind of british Cooking» nennt Henderson seine grossartige „back tot he roots“-Küche bescheiden. Vom ersten Tag an hat er sie, gewürzt mit einer ordentlichen Portion britischen Humors, unter das Motto «from Nose to Tail Eating» gestellt. Das Konzept ist so einfach wie genial, Henderson verwertet Tiere ganz, von Kopf bis Fuss: «Man wird dem Tier, das man schlachtet, nicht gerecht, wenn man es nicht ganz verwertet. Es gibt eine Menge Gaumengenüsse jenseits von Filets, sowohl in punkto Geschmack als auch in der Konsistenz».
Die Zubereitung ist Slow Food im besten Sinn: von Grund auf in traditioneller Weise hausgemacht, ohne Effekthascherei, mit aller Zeit der Welt.
Das Konzept geht auf, der Laden läuft: 2003 haben Henderson und Gulliver den Ableger St. John Bread & Wine am Spitalfield Market in Shoreditch eröffnet, 2009 kam der erste Michelinstern dazu, 2011 das St. John Hotel in Chinatwon, in dem man ebenfalls in Schweinereien in zwanglos-inspirierender Umgebung schwelgen kann, dazu Kochbücher, die Kult geworden sind. 2012 wählte The Independent «The Complete Nose to Tail», erschienen bei Bloomsbury, zum Food Book of the Year, jetzt endlich auch auf Deutsch im echtzeit-Verlag erhältlich.

Bei der grossen Gala von The World’s 50 Best Restaurants, die zuletzt in London stattfand, wurde Fergus Henderson ganz zu Recht mit dem Lifetime-Achievement-Award ausgezeichnet. Warum, das kann nun auch auf Deutsch nachgelesen werden.
Das Schwein hat Fergus Henderson Glück gebracht und «Nose to Teil» längst Schule gemacht. Ehemalige Mitarbeiter haben eigene Restaurants aufgemacht und andere Köche sich daran orientiert. Wie überhaupt die kulinarische Welt – «chefs, foodies, food writers and cooks on sabbatical» – das St. John lieben, wie der New Yorker Anthony Bourdain im Vorwort von Hendersons Kochbuch schreibt. Das Lokal habe sich in kurzer Zeit zu einem «Must-Try» auf der Reiseroute von Spitzenköchen durch die Sternerestaurants von London, Frankreich und Spanien entwickelt, um das Echte und Einfache zu kosten. Und das ausgerechnet als Quintessenz der britischen Hausmannskost. Die Innereien und Fleischwaren, die im St. John über den Tresen gehen, stammen übrigens nur selten vom Smithfield Market nebenan, sondern von Bauern und Biobetrieben direkt vom Land.

 

 

 

Nose to tail Eating in London

St. John
26 St. John Street, Clerkenwell
www.stjohnrestaurant.com

 

St. John Bread & Wine
94-96 Commercial Street, Spitalfields, Shoreditch
www.stjohnbreadandwine.com

Market
43 Parkway, Camden
www.marketrestaurant.co.uk

 

Rochelle Canteen
School House, Arnold Circus, Shoreditch
www.arnoldandhenderson.com

 

Canteen
2 Crispin Place, Spitalfields, Shoreditch

www.canteen.co.uk

 

The Drapers Arms
44 Barnsbury Street, Islington
www.thedrapersarms.com

Hereford Road
3 Hereford Road, Notting Hill
www.herefordroad.org

 

Magdalen
152 Tooley Street, London Bridge
www.magdalenrestaurant.co.uk

 

 

Fergus Henderson

«Nose to Tail»

Echtzeit-Verlag, Basel 2014

432 S., geb., mit Fotografien von Jason Lowe,

mit Vorworten von Anthony Bourdain

und Christian Seiler.

Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Becker

CHF 54. € 44.

 

 

www.echtzeit.ch

 

 

 

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