FRONTPAGE

«Rachel Lumsden: The blazing hot moment und andere Funkensprünge»

Von Ingrid Schindler

Rachel Lumsden zeigt ihre neuesten Werke im Kunstmuseum Thurgau in Ittingen. Gleichzeitig ist ihr Essayband «Ritt auf der Wildsau – Manifest für die Malerei» erschienen: Unterhaltsames und Nützliches, Scharfzüngiges und Geistreiches über Malerei und den helvetischen Kunstbetrieb, gewürzt mit einer ordentlichen Portion britischen Humors.

Punktgenau zur Eröffnung ihrer Einzelausstellung «The blazing hot moment und andere Funkensprünge» im Kunstmuseum Thurgau in der Kartause Ittingen, ist auch Rachel Lumsdens Essayband «Ritt auf der Wildsau – Manifest für die Malerei» im Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, erschienen.

 

Lumsdens «Manifest» ist eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Malerei als Beruf und Berufung aus weiblicher Sicht und ein wilder Galopp durch den zeitgenössischen Kunstbetrieb mit Schwerpunkt Schweiz. Es ist ein Muss für alle, die wissen wollen, wie es hierzulande um die figurative Malerei steht, wie die Gesellschaft der Kunstmächtigen und Galeristen tickt, wie man sich als Künstlerin nicht ins Bockshorn jagen und in Schmuddelecken verbannen lässt und überhaupt, welche Fehler man als junge Kunstschaffende mit Vorteil vermeidet. Eines ist der schmucke, graue Band mit dem magentafarben eingefärbten Papier garantiert nicht: langweilig.

 

Als Lumsden im Jahr 2000 von London nach St. Gallen zügelte und ihre, wie sie selbst sagt, «voll ausgewuchteten Malereien der Painterly Figuration“ hier zeigen wollte, tat sich der Schweizer Kunstbetrieb ausgesprochen schwer mit figurativer Malerei. Heute gehört die in der Ostschweiz und Liechtenstein sesshaft gewordene Britin zu den wichtigsten Positionen der Schweizer Malerei.
In «Igniting Penguins – A Manifesto for Painting», so der Titel der Originalversion, beschreibt sie in elf Kapiteln ihren mitunter steinigen Weg zum Erfolg. Der Text, in der Tradition angelsächsischer Essayistik verfasst, erzählerisch, geistreich und ohne Theoriewulst, ist ein Plädoyer für Malerei, Analyse und Satire, Gebrauchsanleitung, Kritik und Selbstbefragung zugleich. Was ist im digitalen Zeitalter bildwürdig? Wieso überhaupt noch malen?
 
Die figurative Malerei war bis vor kurzem das Stiefkind der zeitgenössischen Kunst in der Schweiz, behauptet Lumsden. Sie galt nicht nur als altmodisch, sondern auch als konservativ. Inzwischen beweist eine neue Generation von MalerInnen das Gegenteil. An diesem Umschwung war und ist Lumsden auch in ihrer Funktion als langjährige Dozentin und Mentorin für Malerei an der Hochschule für Kunst und Design in Luzern beteiligt.
Was haben Lippenblütler, durstige Seelen, trojanische Pferde, müde Grafen und constant gardener gemeinsam? Sie alle gehören zum Bestiarium der Kunstmächtigen, jedenfalls nach Auffassung der britisch-schweizerischen Malerin. In ihrem Buch charakterisiert sie mit Lust und Witz die schrägen Typen, die ihr im Lauf ihrer Karriere Steine in den Weg gelegt oder das Tor weit geöffnet haben. Lumsden lädt die Leser dazu ein, mit ihr Ausflüge in die Kunstausbildung, den Kunstbetrieb und dessen Geschlechterrollen sowie in die Malerei im Allgemeinen zu machen. Dazu erfährt man im Prolog in einer Art Diashow einiges über die Prägungen der in der nordenglischen Hafenstadt Newcastle upon Tyne aufgewachsenen Malerin. Ihre persönliche Haltung zum malerischen Akt im Hier und Jetzt fliesst ebenfalls in das Buch ein.
 
Abbildungen ihrer Gemälde sind nicht enthalten. Den visuellen Part übernimmt gewissermassen die Einzelausstellung im Kunstmuseum Thurgau. Im Verlag für Moderne Kunst in Wien ist ausserdem ein Katalog mit Lumsdens in letzter Zeit entstandenen Werken erschienen, die unmittelbar vor Ittingen in der Villa Bernasconi, Genf-Lancy, zu sehen waren.
Mit ihren grossformatigen Gemälden hat sich Rachel Lumsden international einen Namen gemacht. Was sich auf den Leinwänden abspielt, changiert auf geheimnisvolle Weise zwischen erkennbarer Wirklichkeit und traumartiger Verfremdung.
 
«Fragmente aus Kunstgeschichte und heutigem Weltgeschehen verwebt sie zu rätselhaften Vexierbildern zwischen Vergangenheit und medial geprägter Gegenwart», erläutern Museumsdirektor Markus Landert und Kuratorin Stefanie Hoch vom Kunstmuseum Thurgau. «Doch was wir meinen zu erkennen, ist niemals gesichert. In suggestiven Malprozessen werden Wirklichkeit und Wahrnehmung als in Auflösung befindlich gezeigt, als fragile Konstruktionen, die uns beständig vor der Netzhaut entgleiten und zwischen den Fingern zerrinnen».  Diese Art der Wirklichkeitsbefragung sei ein Balanceakt oder, in Lumsdens eigenen Worten, ein «Ritt auf der Wildsau».
Ausstellung bis 17. Dezember 2023 Kunstmuseum Thurgau Kartause Ittingen.
 

Rachel Lumsden, geboren 1968 in Newcastle-Upon-Tyne GB, 1998 Postgraduate Master in Paiting an der Royal Academy of Arts Schools of London, seit 2002 in der Schweiz (St. Gallen), seit 2007 Dozentur an der Hochschule Luzern Design und Kunst.

 

 

 
Rachel Lumsden

Ritt auf der Wildsau. Manifest für Malerei
Scheidegger & Spiess, Zürich 2023
Geb., 200 S., CHF 29.

ISBN ISBN 978-3-03942-145-9

 

 

 

«Frau und Kunst um 1900: Amanda Tröndle-Engel»

 Von Ingrid Schindler
 

Mara Meier widmet ihren ersten Roman der Solothurner Künstlerin und Kunstpädagogin Amanda Tröndle-Engel (1861-1956), die in München ihr Glück fand. Sie skizziert in der lebendig und anschaulich geschriebenen Romanbiografie die entscheidenden Momente eines aussergewöhnlichen Emanzipationsprozesses nach, der auch heute noch beeindruckt und lesenswert ist.

 

Der Schein trügt. Titel und Porträt auf dem Cover könnten suggerieren, es handle sich bei Mara Meiers Erstling um seichten, gefühligen Kitsch. Von wegen! Die Lebensgeschichte der Solothurner Malerin Amanda Tröndle-Engel, um die sich das Buch dreht, spielt in einer anderen Liga. Eine mutige Frau, die sich auf eine Art selbst verwirklicht, die zur damaligen Zeit skandalös war. Der Titel ist ein Zitat eines der schillerndsten und faszinierendsten Kunstpädagogen seiner Zeit: Adolf Hölzel lockte mit seinen neuartigen Methoden und Lerninhalten Künstler und Künstlerinnen aus ganz Europa ins Münchner Umland.

 

Die Autorin Mara Meier konzentriert sich in der Romanbiografie auf die Jahre 1900 bis 1905, in denen Amanda Amiet-Engel zwischen Solothurn und München bzw. Dachau hin und her pendelt und sich zu einer selbstbewussten, selbständigen Frau wandelt. Sie interessiert, wie sich die Solothurner Juristenwitwe zu einem der «Malweiber» der Dachauer Künstlerkolonie entwickeln und 1906 den 22 Jahre jüngeren Künstler Oskar Tröndle aus Möhlin in München heiraten konnte. Eine Liaison, die die Ketten der bürgerlichen Sitten und Moralvorstellungen sprengt und 40 Jahre, bis zu Oskars Tod 1945, hält. Sie selbst stirbt 94-jährig im Jahr 1956.

 

Paris oder München?

Amanda Engel, geboren 1861, wächst in Ligerz bei Twann am Bielersee auf und zeigt früh eine künstlerische Begabung. Die Notarstochter absolviert in Basel und später in Paris eine konventionelle Ausbildung zur Zeichnungslehrerin, die wie damals üblich im strengen Kopieren alter Meister besteht. 1885 heiratet die junge Kantonsschullehrerin den Solothurner Richter Arnold Amiet, mit dem sie eine glückliche Ehe führt. Die Romanbiografie setzt mit der Reise des Paars zur Pariser Weltausstellung im Juni 1900 ein. Wenige Wochen später stirbt Arnold an Typhus.

In Paris betrachtet Amanda Amiet Werke von Hodler sowie von ihrem ehemaligen Schüler Cuno Amiet, die im Grand Palais im Rahmen der Weltausstellung gezeigt werden. Letzterer erhält für das Gemälde «Richesse du soir» sogar die Silbermedaille. Vor dem Bild hört sie eine andere Besucherin zu ihrer Begleiterin sagen, «dass es mit den Pariser Damenakademien vorbei sei. Für sie gebe es nur noch München, die Künstlerinnenschule, da lerne man etwas.» Der erste starke Impuls, sich im fortschrittlichen München weiter auszubilden, ist gesetzt. Es handelt sich bei der Frau mit Filzhut, Krawatte, Männerhemd und Pumphosen unterm Rock um die St. Galler Holzschneiderin Martha Cunz, die sich, wie viele andere Schweizer auch, in der Kunststadt München und Künstlerkolonie Dachau niederliess.

 

Bis 1900 war Kunst männlich

Für Frauen gab es damals kaum die Möglichkeit, sich zur Künstlerin auszubilden. Akademien und Kunstgewerbeschulen standen nur Männern offen. Malende Frauen, auch wenn sie noch so begabt waren, «wurden in die Ecke des Dilettantismus abgedrängt», so Meier im Buch. In den Damenakademien wurden ihnen nur Kurse angeboten, die Blumen, Stillleben und hübsche, gefällige Porträts zum Inhalt hatten. Malerei fand für Frauen im privaten Umfeld statt, sie war ein «agrément», ein angenehmer Zeitvertreib für die gehobene Schicht. Einen Markt für hauptberufliche Künstlerinnen gab es ebenso wenig wie Ausbildungs- und Ausstellungsstätten. Die einzige Möglichkeit, mit Kunst Geld zu verdienen, bestand im Unterrichten, wie es Amanda Amiet-Engel tat. Als Oberrichtersgattin allerdings nur noch privat. Für 5 Franken pro Nachmittag unterweist sie Kinder in ihrer Malschule am Rosenhag in Zeichnen und Malen, Kinder aus einkommensschwachen Familien kostenlos.

 

«Paris ist passé – die moderne Künstlerin geht nach München»

In München gibt es die Damenakademie des Künstlerinnen-Vereins. Das ist ein anderes Kaliber als Paris. «Paris ist passé», diesen Schluss legt Autorin Meier mehreren Figuren in den Mund. Amandas Nichte Martha argumentiert gegenüber der Tante, welche Vorzüge für München sprechen: «Tageskurse Landschaft, Perspektive, Radieren …. und gleich kommt’s noch besser: Aktzeichnen, Anatomiekurs … und das an einer Kunstschule für Frauen!» Es war aufregend und revolutionär, dass «den Frauen eine künstlerische Ausbildung geboten werden solle, die dem akademischen Unterricht für Männer gleiche». Nichte und Tante schreiben sich schliesslich in der Münchner Damenakademie ein.

Um 1900 ziehen von überall her junge Frauen nach München, um dort ein freieres Leben als Künstlerinnen, Schriftstellerinnen oder Lebedamen zu wagen und neue Formen des Zusammenlebens zu praktizieren. Die Frauenbewegung findet in der Münchner Bohème reichlich Nahrung, man ignoriert und überwindet gesellschaftliche Schranken, Tabus und geltende Moralvorstellungen; «freie Mutterschaft», selbstbestimmte Sexualität bis hin zur Prostitution und Selbstbestimmung über den weiblichen Körper sind die Themen.

 

Bohèmeleben in der klammen Dachkammer

1901 zieht die seriöse 40-jährige Juristenwitwe vom behaglichen Haus Rosenhag in Solothurn in die erste von mehreren, komfortfreien Münchner Dachkammern, argwöhnisch von biederen Zimmerwirtinnen beobachtet. Sie lernt andere KünstlerInnen kennen, kommt mit dem Kreis der Schweizer Künstler in München in Kontakt, besucht KollegInnen in deren Ateliers, tauscht sich mit ihnen in Cafés, Biergärten und Kneipen aus und geniesst das freie, ungezwungene Leben in Bayern. Sie besucht Kurse bei Jank, Hollosy und Feldbauer an der Münchner Damenakademie, bis sie zu Hölzel nach Dachau wechselt.

Adolf Hölzel gilt als Wegbereiter der Moderne. Zusammen mit Arthur Langhammer und Ludwig Dill gründete der Maler die Neu-Dachauer-Schule, wo er sehr erfolgreich eine neue Art des Sehens und Malens in freier Natur unterrichtete, bevor er als Professor an die Kunstakademie Stuttgart berufen wurde. «Es gehe nicht darum, was man zeichne. Es gehe nur um die Massenverteilung im Bild», notiert seine Schülerin Amanda in ihrem Tagebuch, um die Verteilung von leichteren und schwereren Massen, bevor an Farbe überhaupt zu denken sei.

Hölzel überzeugt sie so sehr, dass sie nach Dachau zieht und zum «Malweib» wird, wie die Einheimischen und Bauern in der Umgebung despektierlich die auswärtigen Künstlerinnen nennen, die auf der Suche nach Motiven mit Malrucksack, Malschirm, Staffelei, Leinwand, Skizzenheft, Stiften und Farben durch die idyllische Moorlandschaft im Dachauer Moos wandern. Oft werden sie von kleinen Helfern, den «Malermadln» und «Malerbuam» begleitet. Amanda findet im Holzschneider Oskar Tröndle aus dem Schweizer Künstlerkreis um Ernst Kreidolf in München einen treuen Begleiter und kommt ihm wider Willen immer näher.

 

Das Leben – ein Roman

Mara Meier beschreibt die entscheidende Phase im Leben der Solothurnerin – die Jahre in München und Dachau – in Romanform. Mithilfe erfundener Dialoge, Schilderungen und Szenen, die sich im echten Leben der Amanda Tröndle-Engel so oder ähnlich zutragen hätten können, gelingt ihr das griffig und anschaulich. Sie bringt dem Leser die Atmosphäre der Epoche, die Lebensumstände und Persönlichkeit der Protagonistin näher, vermittelt durch fiktive Gefühle und Gedanken. Mit grosser Einfühlsamkeit, Empathie und Fingerspitzengefühl wie auch beeindruckender Sachkenntnis und breit abgestütztem Quellenstudium zeichnet Meier das Leben der Malerin in den kritischen Momenten nach. Sie beleuchtet in leicht lesbarer Romanform nicht nur deren Weg zur emanzipierten Künstlerin, die in der Liebe wie im Beruf die Fesseln sprengt, sondern fängt auch den Geist der sogenannten guten alten Zeit, der Prinzregentenzeit, ein. Diese ist eine Zeit des Umbruchs und Aufbruchs in die Moderne, die mit überkommenen Normen bricht. Es sind die wilden Jahre der Münchner Bohème und Dachauer Künstlerkolonie, die Meier in ihrem Roman zum Leben erweckt.

 

«Aug, erwach!»

Der Künstler- und Frauenroman ist auch eine Liebesgeschichte, die auf einer wahren Love Story beruht. Die Witwe Amiet-Engel kehrt als frisch vermählte Frau Tröndle-Engel mit ihrem jungen Mann Oskar 1907 nach Solothurn zurück. Statt mit ACE signiert sie nun ihre Werke mit dem Kürzel ATE. Nicht alle können sich mit dem grossen Altersunterschied des Paares arrangieren, Amanda könnte Oskars Mutter sein.

In ihrer «Mooli», der stadtbekannten Malschule am Sälirain, unterrichtet Amanda Tröndle-Engel Zeichnen, Malen und Aquarellieren nach neuen, modernen Methoden. Sie rückt Anschauung, Beobachtung und eigenes Erleben in den Vordergrund der Ausbildung, da ihrer Meinung nach Zeichnen befähige, die Welt zu sehen. Sie hält Vorträge über die Reformierung des Zeichnungsunterrichts und publiziert 1935 gemeinsam mit Oskar das Buch «Aug, erwach! Ein Beitrag zum Zeichenunterricht in der Volksschule», ein Standardwerk der modernen Kunstpädagogik.

Ihre Werke verkaufen sich besser als die ihres introvertierten, stillen Mannes, der in der Kunstszene vor allem für seine Holzschnitte bekannt ist. Sie hat weiterhin vor allem als Porträtmalerin Erfolg und stellt ihre Arbeiten regelmässig im Schweizer Kunstverein und Ausstellungen Schweizer Künstlerinnen aus. Ihr Linolschnitt «Das Kätzchen» schaffte es auf die Weltausstellung 1947 in New York.

 

 

Mara Meier

Im Sommer sind die Schatten blau.

Amanda Tröndle-Engel

Romanbiografie

Zytglogge 2022

280 S.,  CHF 34.

 

 

Bildlegenden:

  1. Amanda Amiet-Engel, Selbstbildnis 1889  2) Amanda Tröndle-Engel mit Oskar Tröndle, Foto von 1906   3) Amanda Amiet-Engel, «Im Atelier», Öl auf Leinwand 1895   4) Amanda Amiet-Engel, Selbstbildnis 1900, Cover von Mara Meiers Romanbiografie «Im Sommer sind die Schatten blau. Amanda Tröndle-Engel»

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