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«Ralph Bollmann: Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit. Eine spannende Biografie»

Von Ingrid Isermann

 

Sie schrieb Geschichte: Mit Angela Merkel zog erstmals eine Frau 2005 ins Kanzleramt ein. Ralph Bollmann zeichnet in seiner Biografie den Lebensweg Merkels und ihrer Kanzlerschaft nach, von der Finanzkrise über die Flüchtlingskrise bis zur Covid 19-Pandemie 2021.

Seit der deutschen Wiedervereinigung stand Angela Merkel im Fokus der Politik, vom paternalistischen «Kohls Mädchen» bis zum Cover des US-Nachrichtenmagazins «Time» als mächtigster Frau der Welt.
1991 hatte Helmut Kohl die 37-jährige Merkel in sein Kabinett geholt, doch die CDU/CSU tat sich von Anfang an schwer mit der protestantischen Pfarrerstochter und Physikerin, der Wissenschaftlerin mit kühlem Blick und pragmatischer Ausrichtung auf eine Politik der Machbarkeit. Emotionslos und ohne Visionen sei sie gewesen, monierten die meist männlichen Kritiker, die sich vorwiegend auf ihr Äusseres konzentrierten, aber auch Frauen war sie oft nicht ganz geheuer.

Angela Merkel liess von aussen betrachtet vieles an sich abrinnen, Teflon-Kanzlerin wurde sie deshalb auch genannt. Wie hält ein Mensch das aus? Und was waren ihre Beweggründe in der Politik? Dem versucht die Biografie von Ralph Bollmann auf den Grund zu gehen.

 

Ein Gespür für Loyalität und Diskretion

In ihrem Beitrag in der «ZEIT» («Ein feste Burg», Nr. 51/9.12.2021) beschreibt Helga Schubert, Ingeborg Bachmann-Preisträgerin 2020, Angela Merkels erstaunliches Gespür für Loyalität und Diskretion. Wie sie die im TV mit Pathos übertragenen militärischen Ehren des Grossen Zapfenstreichs am 2. Dezember 2021 im historischen Bendlerblock Berlin mit ihrer Ansprache durchstand («Ich bin nicht als Bundeskanzlerin geboren»), Machtdemonstration augenscheinlich abhold, lakonisch und unprätentiös. Im Gegensatz zu Machtattitüden ihrer Kollegen, denn es waren ja meist Männer in der eisigen Höhe der Machtstruktur. Zum Abschied aus der Politik wünschte sie sich den Hildegard Knef-Song «Für mich soll’s rote Rosen regnen» nebst einem Punk-Song von Nina Hagen und einem Kirchenlied. Die Auswahl überraschte.

 
Hatte man sich in der Öffentlichkeit ein Bild von ihr gemacht, dem sie nicht entspricht, das ihrem Langmut zwischen Gefühl und Verstand  nicht gerecht wird? Ihre knappen Kommentare «Sie kennen mich» und «Wir schaffen das!» waren Kult.

Nach ihrem Abgang wird sie auch historisch mit anderen Augen gesehen werden. Sie hat die CDU mit Themen wie des Atomausstiegs oder der Wehrpflichtabschaffung modernisiert und sie für breitere Schichten wählbar gemacht. 2017 erreichte die CDU/CSU immerhin noch 32,9 Prozent. 

 

Die Krisen-Kanzlerin

Krisen haben Angela Merkels Regierungszeit geprägt, Finanzkrise 2008, Eurokrise 2014, die Flüchtlingskrise 2015, Corona-Krise seit 2020. Kritiker warfen ihr Stillstand vor. Die NZZ nannte sie bilanzierend eine «Künstlerin der Macht» (NZZ, 8.12.2021), die das Aussitzen beherrsche.  Das Phänomen Merkel und ihre lange Regierungszeit lässt sich damit nicht erklären.
Angela Merkel war als Kanzlerin der Veränderung angetreten, sie wurde eine Kanzlerin des Bewahrens. Das lag an den deutschen Befindlichkeiten, einem ausgeprägten Sicherheitsdenken als auch der Weltlage, wie sich in ihrer Person die grossen Strömungen der Zeit bündelten. Die Welt, die sie urprünglich verändern wollte, geriet ins Rutschen, sodass das Bewahren zur ersten politischen Pflicht wurde. Die liberale Demokratie, der Zusammenhalt des Westens, der durch den Systembruch 1989/90 den gemeinsamen politischen Gegner verlor, waren bedroht. So musste sich nun ausgerechnet die neue Politikerin aus dem Osten an der Stabilisierung der Demokratie und den alten Werten versuchen.
 
Unter Merkels Amtszeit ist das Ansehen Deutschlands im Ausland wesentlich gestiegen. Dazu trug nicht nur die Länge ihrer Amtszeit bei, sondern auch eine spezielle Art von Charisma. Das Sachliche, Ruhige, Unaufgeregte fand weit über Deutschland hinaus  Bewunderung. Merkel wurde  in globaler Hinsicht als Antipodin nicht nur der Autokraten, sondern auch der Populisten in den westlichen Demokratien gesehen. Ihr Eintreten für den Multilateralismus oder den Klimaschutz, ihre Flüchtlingspolitik und ihr Agieren in der ersten Phase der Corona-Krise machten sie zu einem Gegenmodell zu Machthabern wie beispielsweise Donald Trump in den Vereinigten Staaten, so Ralph Bollmann.

Ihre Landsleute könnten diese nicht zu unterschätzende Bedeutsamkeit erst später erkannt und zu schätzen gelernt haben.

 

Diese Kanzlerin ist nicht enträtselt, solange sich Deutschland nicht mit der Geschichte der DDR und ihrem Anschluss an die Bundesrepublik auseinandersetzt und die auch historische Rolle Angela Merkels einbezieht.

Ein Tabu scheint auch zu sein, dass durch die Zuwanderung der wachsende Fachkräftemangel behoben werden könnte und auch die Altersvorsorgen gesicherter, was Merkels Denken vom Ende her plausibel machen würde. Wie lautete Angela Merkels Doktorarbeit von 1986? «Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden». Tönt doch fast wie Korrelationen zur politischen Gegenwart. Die deutsche Politik bleibt spannend und wird für Europa nach wie vor eine prägende Rolle spielen.

 

Nun ist sie gegangen und hat als erste deutsche Regierungschefin mit 67 Jahren ihre Amtszeit freiwillig 2021 beendet. Die CDU ist nach ihrem Abgang in der für sie neuen Opposition und der alte Widerpart Friedrich Merz ist mit 66 Jahren am 17. Dezember 2021 im dritten Anlauf zum CDU-Parteivorsitzenden gewählt worden. Man darf gespannt sein, wohin sich die CDU/CSU bewegen wird. Zurück in die Vergangenheit? Den rechten Rand der AfD zurückholen, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird, eine rechtsextreme Partei unter dem Vorzeichen des Verbots?

Eine Ära ist zu Ende und der SPD-Vizekanzler der Grossen Koaltion unter Angela Merkel ist nun überraschenderweise der Kanzlernachfolger: Olaf Scholz, seit 8. Dezember 2021 mit der neuen Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP im Amt, liess sich mit ihrer legendären Raute fotografieren, als wolle er ihre Konstante weiterführen.

 

Ein aussergewöhnlicher Lebenslauf
Die Familien- und Umweltministerin und Generalsekretärin der CDU, wurde die beliebteste deutsche Politikerin, im Zentrum der Macht, deren Politik ein ganzes Zeitalter entscheidend geprägt hat. In der Regierungszeit von Angela Merkel begannen sich Gewissheiten aufzulösen, die vertraute Weltordnung der Nachkriegszeit verschwand, eine neue Unsicherheit trat an ihre Stelle, zuletzt in der Corona-Krise sogar bis in den Alltag der Menschen hinein. Durch die Erfahrung des Systembruchs von 1989/90 war die ostdeutsche Politikerin darauf besser vorbereitet.
Sie war nicht zuletzt deshalb beliebt, weil sie von den veränderungsunlustigen Deutschen Zumutungen möglichst fernhielt. Doch mit der Flüchtlingsdebatte endete diese Harmonie. Merkel konnte und wollte Deutschland nicht länger von den Weltläufen abschirmen und polarisierte selbst im Konflikt zwischen nationaler Abwehr und Weltoffenheit.
Ralph Bollmanns Biografie ist nicht nur ein fesselndes Lesevergnügen, sondern auch eine eindrucksvolle Geschichte Deutschlands und Europas seit der Wende.

Eine unverzichtbare Lektüre, flüssig geschrieben, exaktes Hintergrundwissen verbunden mit der Zeitgeschichte, eröffnet eine vielschichtige Perspektive auf die erste Kanzlerin Deutschlands.

 

 

Leseprobe

1.Herkunft (1954-1961)

Hamburg

Angela Merkel wurde am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren, wo sie die ersten Monate ihres Lebens verbrachte. Ihre Mutter kam aus Danzig, als Deutsche hatte sie die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg verlassen müssen. Merkels Vater war der Sohn eines Polen, der aus Posen stammte und der Stadt nach dem Ersten Weltkrieg den Rücken gekehrt hatte. Das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches. Wie viele der heute lebenden Bundesbürger polnische Vorfahren haben, das lässt sich schon an den Familiennamen ablesen. Und die Zahl der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten, die nach 1945 in den vier Besatzungszonen alles andere als willkommen waren, betrug rund 13 Millionen.
Merkels Familiengeschichte, auch die erste Hälfte ihres eigenen Lebens spiegelt das Deutschland des 20. Jahrhunderts. Lange war dieses Land ein chaotischer Faktor der europäischen Politik – mit unklaren Grenzen, wechselnden Währungen, zerrütteten Finanzen, stets neuen politischen Regimen, als Urheber von Kriegen. Die alte Bundesrepublik suchte mit ihrer Stabilitätskultur, dem Streben nach Sicherheit, dieser Geschichte zu entkommen. Das gelang, und entgegen vielen Befürchtungen kehrte das vergrösserte Deutschland zumindest fürs Erste nicht in den alten Zustand zurück, erwies sich in den Krisenjahren nach 2008 sogar als der Stabilitätsanker des Kontinents.
Das geschah ausgerechnet unter der Führung einer Kanzlerin, der das Sicherheitsdenken der meisten Deutschen zunächst sehr fremd war, auch weil sie wusste, dass es gegen künftige Unsicherheiten nicht schützt. Mehr noch: Ihre Aufgabe wurde es, das Land in eine Welt heranzuführen, in der die überwunden geglaubten Risiken Stück für Stück zurückkehren.
Man muss sich ihre Familiengeschichte vor Augen führen, um ihre tiefe Prägung durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen.

Westdeutsche Nachgeborene haben viel darüber gerätselt, was den Vater der späteren Bundeskanzlerin zu dem Schritt in den Osten bewog. Spätstens seit dem gescheiterten Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 des Vorjahres nahmen weitaus mehr Menschen den umgekehrten Weg und siedelten von Ost- nach Westdeutschland über. Allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 1954 kamen 180 000 Menschen über die Zonengrenze in die Bundesrepublik, während des gesamten Zeitraums von 1949 bis zum Mauerbau 1961 waren es rund 2.5 Millionen. Horst Kasner berichtete später selbst, der Umzugsunternehmer habe damals gesagt, er kenne nur zwei Sorten von Leuten, die von West nach Ost wechselten: «Kommunisten und wirkliche Idioten».
Für einen Idioten hielt sich Kasner nicht, trotz aller Distanz zum Kapitalismus auch nicht für einen Kommunisten. Er war in den Westen gegangen mit der festen Absicht wiederzukommen. Er hat es immer so empfunden, dass er als Pfarrer eine Aufgabe hat, es müsse eben auch Pfarrer geben in der DDR, sagte die Tochter später. Sie behauptete im Rückblick auch, diese Entscheidung des Vaters sei in der Familie kein kontroverses Thema gewesen, aber zumindest die Mutter haderte gelegentlich mit dem Schritt.
(…) Ohnehin waren die deutschen Welten bis zum Mauerbau nicht so getrennt wie in späteren Jahrzehnten. Das betraf zunächst Alltag und Lebensgefühl, die auf beiden Seiten der Systemgrenze von der Kargheit der Nachkriegszeit gekennzeichnet waren. Auch im Westen wurden noch viele Wohnungen mit Kohle beheizt, nur eine winzige Minderheit der Haushalte verfügte über einen eigenen Telefonanschluss, und auf fast allen Bahnstrecken waren Dampfloks unterwegs. (…) Auch politisch waren die Grenzen in Angela Merkels Geburtsjahr fliessender als später. Die Bundesrepublik war der Nato noch nicht beigetreten, der Warschauer Pakt noch nicht gegründet, die Spaltung Deutschlands keineswegs als vollendete Tatsache akzeptiert. Erst zwei Jahre zuvor hatte das Angebot Josef Stalins, der Wiedervereinigung eines neutralen Deutschlands zuzustimmen, erhebliche Diskussionen ausgelöst. Beträchtliche Teile der Bevölkerung zweifelten daran, dass die brüske Ablehnung durch Konrad Adenauer richtig war. Wenig später liess dann der Tod des sowjetischen Diktators für kurze Zeit auf ein weltpolitisches Tauwetter hoffen. Auch der zunächst sehr starke Druck auf die ostdeutsche Kirche liess in dieser Zeit nach.
(…) Im September 1954 wurde aus der gebürtigen Hamburgerin Angela Kasner also eine Ostdeutsche. «Im Alter von acht Wochen hat man mich in einer Tragtasche nach Brandenburg gebracht». Die Kasners kamen in eine karge Welt. Quitzow hiess das kleine Dorf in der nordwestbrandenburgischen Prignitz, in der Horst Kasner seine erste Pfarrstelle antrat, heute gehört es zur Stadt Perleberg. Die Gegend hatte noch nie zu den wohlhabendsten gehört, die Folgen des Krieges taten ein Übriges. Nach 1945 wuchs die Bevölkerungszahl des Ortes durch die Ankunft von Flüchtlingen kurzzeitig von rund 300 auf fast 500 an. Die sowjetische Besatzungsmacht hatte im Zuge der Bodenreform alle Landbesitzer enteignet, die über mehr als hundert Hektar verfügten. Damit wollte sie die Macht der ostelbischen Grossgrundbesitzer brechen, im Anschluss an Diskussionen, die vor 1933 auch in nichtkommunistischen Kreisen geführt worden waren.

 

Ralph Bollmann ist Historiker, Journalist und wirtschaftspolitischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er hat bereits 2013 ein Buch über Angela Merkel und die Deutschen geschrieben und für diese Biografie u.a. zahlreiche Gespräche mit Zeitgenossen und Weggefährten von Angela Merkel geführt.

 

 

Ralph Bollmann
Angela Merkel
Die Kanzlerin und ihre Zeit
C.H. Beck Verlag, München 2021
Hardcover, 800 S., CHF 44.90. € 29.95
ISBN 978-3-406-74111-1

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