FRONTPAGE

Antarktis-Expeditionsreise: «Cola statt Cüpli»

Von Ingrid Schindler

 

Seit den 60ern befuhr sie als Versorgungsschiff die stürmischste See der Welt, 2004 wurde sie zum Expeditionsschiff umgebaut. Seither bringt die «Antarctic Dream» Touristen von Feuerland durch die Drakestrasse in die Antarktis und umgekehrt.

 

Seit eineinhalb Tagen reisen wir schon. Zürich – Madrid – Santiago de Chile – Punta Arenas in Feuerland. Unser Ziel heisst King George Island in der Antarktis. Morgens um sieben versammeln sich in der Wartehalle des Flughafens von Punta Arenas eine Gruppe Reisender aus aller Welt. Wir warten, bis die Winde günstig sind. Kurz vor elf Uhr scheint das Sturmfenster für die kleine Maschine gross genug, um durch die ungemütlichsten Breitengrade der Welt durchschlüpfen. Nicht umsonst heissen sie «screaming sixties», «furious fifties» und «roaring forties». Seefahrer können ein Lied davon schreien.
Nichtsdestotrotz ist der vierte und letzte Flug auf der Reise ins Eis der angenehmste. Vielleicht liegt es der lockeren Crew, netten Jungs aus Chile in legerer Alltagskleidung. Sie schnallen Rucksäcke freundlich auf leeren Nebensitzen an, statt sie im Befehlston nach unten oder oben zu verbannen und binden sich bunte Küchenschürzen um, um uns Whisky-Cola, Sandwiches, Aufschnitt, Honigkuchen und Kirschen auf dem Weg in die Kältekammer der Erde zu servieren.

 

Schlechtwetterküche der Welt
Turbulenzen shaken unsere Drinks. Wer sich nicht beeilt, wird nass, von den lebhaften Lüften des Südpolarmeers getauft. Wir fliegen durch die Wetterküche der Welt. Den sechsten Kontinent, eineinhalb mal so gross wie Europa, im Winter zusätzlich von einem 1000 Kilometer breiten Packeisgürtel umgeben und zu 98 Prozent von einer durchschnittlich 1,6 km dicken Eisschicht überzogen, diesen eisigen Kontinent umkreist eine nie endende Kette von Tiefdruckgebieten. Von West nach Ost jagt eines das andere. Je nachdem, ob man Anfang oder Ende eines Tiefdruckgebiets erwischt, dauert auf See die rund 1000 km lange Überfahrt von Patagonien bis zur Antarktischen Halbinsel ein- bis zweieinhalb Tage. Im Korridor der Drakestrasse zwischen Kap Hoorn, dem letzten Ausläufer Südamerikas, und dem Nordwesten der Antarktis werden Tiefdruckgebiete und Wassermassen, die sonst in einer mehrere Tausend Kilometer breiten Meeresautobahn in freier Fahrt um die Antarktis sausen, durch die Landmassen eingeschnürt und wie durch eine Düse gepresst.
„So entsteht das grösste Strömungssystem unserer Erde mit Wellen, die sich zu ungeahnten Höhen auftürmen können“, erklärt der Antarktis-Experte Christian Walther in seinem Reise-Handbuch „Antarktis“ die Kaventsmänner und Monsterseen der Drake Passage. „Essen Sie gut, bevor Sie durch die Drake fahren“ rät ein Flight Attendant. „Mit vollem Magen übersteht man Neptuns Rache besser.“ Immerhin, einen Ritt durchs Höllenmeer haben wir uns durch das Einfliegen in die Antarktis gespart.

 

 

Wet Landings
Unter uns tut sich weiss-graue, gebirgige Ödnis auf. Der Himmel ist bedeckt. Der Pilot setzt zur Landung an. Kein Rollfeld weit und breit. Für einen Sekundenbruchteil schiebt sich der Gedanke „Bruchlandung statt Schiffbruch“ in den Kopf, doch schon setzt der Pilot souverän die schwankende Maschine auf einer Schotterpiste auf. King George Island begrüsst uns mit leichtem Schneefall und eisigem Wind – willkommen im Sommer in Antartica! Die Temperaturen sind an sich gar nicht so kalt, sie liegen um den Gefrierpunkt, aber der Wind fährt schneidend in die Knochen.
„Zieht euch Regenhosen an! Alle Anlandungen in der Antarktis sind nass“, empfängt uns beim Aussteigen unser Guide, ein dick vermummter Hüne mit wollenen Wikingerhörnern auf der Mütze. Noch unter den Tragflächen des Flugzeugs lässt er uns Warmes und Wasserdichtes aus den Koffern holen. Dann geht es im Gänsemarsch zum Strand.

Auf dem Weg kommen wir an Containerbaracken der chilenischen Basis Frei und der russisch-orthodoxen Kirche der russischen Station Bellingshausen vorbei. In der Antarktis gibt es keine Ureinwohner, nur Forschungs- und Militärstationen verschiedenster Nationen, die im antarktischen Sommer mit 4000 Menschen und Winter mit 1000 Personen besetzt sind. Hinzukommen von November bis März circa 30‘000 Touristen, von denen längst nicht alle den Fuss auf den weissen Kontinent setzen dürfen. Denn nur etwa 100 Personen dürfen gleichzeitig an einer Stelle an Land. Grosse Kreuzfahrtsschiffe sind im Nachteil.

 

Eisarbeiter
Am Wasser erwarten uns Pinguine, deren Bekanntschaft wir in den nächsten Tagen noch oft machen werden, und unsere Zodiacfahrer, die uns mit ihren schnellen, starken Schlauchbooten auf die Antarctic Dream bringen. Klein und so gar nicht nach Kreuzfahrt sieht das Schiff da draussen aus, das, umzingelt von Eisschollen, auf uns wartet. Es ist ein eisverstärktes Expeditionsschiff, 1958 in Holland gebaut. „Kein Eisbrecher, sondern ein Eisarbeiter, der sich durch Treibeis schlängeln kann“, wie Gonzalo Doren, der erste Offizier erklärt.
Doren fährt seit 26 Jahren auf dem Schiff. Er war schon zu Zeiten an Bord, als es noch Piloto Pardo hiess und als Versorgungsschiff für chilenische Militärbasen in der Antarktis im Dienst war. „Natürlich nur im antarktischen Sommer, von Mitte November bis Mitte März. In der restlichen Jahreszeit kartografierten wir die Küste Feuerlands“, erzählt der 63-jährige Chilene.
2004 wurde das Schiff zum Expeditionsschiff für maximal 80 Passagiere und 43 Mann Besatzung umgebaut. „Es ist ein gutes Schiff, ist ausgezeichnet gebaut, hat eine extrem gute Hülle. Die Hülle ist sein wahres Kapital.“ Solche Worte hört man gern aus berufenem Mund, zumal der Seemann schon seit 49 Jahren das Südpolarmeer befährt. Das Schiff habe sich in schwierigen Situationen immer bewährt. Bullaugen und grosse Fenster könnten ob der Wucht der Wellen bersten, Zodiacs sich lösen, und einmal wurden zwei Helikopter auf dem Oberdeck beim Aufprall im Wellental zerstört. Doren lacht: „Nein, nein, Angst muss man nicht haben, nur Respekt! Auf diesem Schiff habe ich das wundervollste schlechte Wetter meines Lebens erlebt! Seitdem vertraue ich dem Schiff.“ Könnte man Grauenvolles schöner sagen?

Kein Empfang, aber Motive
Die nächsten Tage stehen im Zeichen der Pinguine. Abertausender von Pinguinen. Frackvogelfans kommen voll auf ihre Kosten. „Wenn die Jungen ausgebrütet und gross genug sind, ist hier kein Pinguin mehr zu sehen. Sie leben dann im Meer“, sagt einer der Referenten, ein Vogel-Spezialist. Sieht man von Albatrossen, Sturmvögeln, Raubmöwen, Kormoranen und Pinguinen ab, machen sich tierische Bewohner in der Antarktis rar. Mit etwas Geduld bekommt man aber sicher auch Wale, Robben, Seeleoparden und -elefanten vor die Linse. Die meisten unserer Mitreisenden haben teure Kameras und Objektive im Gepäck.
Fotomotive gibt es genug, vorausgesetzt man liebt das Eis: Kalbende Gletscher, Eisberge, Pfannkucheneis, Eistore-paläste, -formationen in himmlischen Blautönen. Dann wieder hoch aufragende Küstengebirge, schroffe, schwarze Felsen, sanfte weisse Kuppen, wunderliche Traumlandlandschaften wie am Lemaire-Channel oder vulkanische Marsszenerien wie die verfallenen Trankochereien in der Whalers Bay auf Deception Island. Schönheit, nicht von dieser Welt. Die Stille macht ihren besonderen Reiz aus.
Wer hierher reist, ist weg, der Welt enthoben. Kein Handy, keine Mails, keine Nachrichten, keine Termine, nichts. Man ist nicht auf Empfang. Natur, Bücher, Gespräche, Runden an Deck und Landgänge mit dem Zodiac, damit füllen sich die Stunden zwischen den Mahlzeiten. Ruhe. Stille. Zeit. Die Antarktis ist Erholung pur. Auch für das Auge. Das Ökosystem des weiten, weissen Kontinents ist das empfindlichste der Erde und zugleich das einzige noch intakte auf der Welt. Seit Unterzeichnung des Antarctic Treaty am 1. Dezember 1959 darf der Mensch dort keine Spuren hinterlassen.

 

Post vom Südpol
Nach der Fahrt durch den spektakulären Lemaire-Channel holt ein Zodiac Ylva Grams an Bord. Die Norddeutsche isst mit uns und erzählt über den antarktischen Sommer in Port Lockroy. Sie leitet die historische, britische Forschungsstation Base A und lebt mit vier Kollegen, drei Frauen und einem Mann, und jeder Menge Eselspinguine von November bis März auf dem winzigen Goudier Island.
Der Naturhafen Port Lockroy wurde 1904 von Expeditionsschiffen als idealer, sicherer Ankerplatz entdeckt. Bald kamen auch Wal- und Seelöwenfänger. Um sich gegen Ansprüche der Argentinier und Chilenen abzusichern, eröffneten die Briten ein Postamt auf Goudier Island. Keine wirklich schlüssige Strategie, aber das Post Office gibt es heute noch – als einziges in der Antarktis – und einen kleinen Shop mit Museum dazu.
Das meist gekaufte Stück in ihrem Laden sei der antarktische Tartan, sagt Ylma. Und natürlich Postkarten. Durchschnittlich 8‘000 pro Saison, bei 13‘000 Besuchern. „Es kann sechs Wochen dauern, bis eine Karte ankommt, meint die 39jährige und skizziert den langen Weg: „Erst das nächste Schiff zu den Falkland Inseln abwarten, von dort mit der Luftwaffe ins Weltverteilzentrum in England und dann weiter an den Bestimmungsort. Wenn der etwa in Patagonien liegt, reist die Post auf dem Seeweg nach Südamerika zurück.“
Diese Saison ist Ylmas zweite in Port Lockroy. Es gibt viel Arbeit, kaum Komfort, kein Boot, keinen Internetanschluss, kein TV, kein fliessendes Wasser, dafür und Wandmalereien – Sexbomben der Fünfziger – über den Betten ihrer Vorgänger, ein Camping-WC und Campingkocher. „Ständig muss man etwas reparieren, putzen, anmalen, Kabel verbinden, meteorologische Daten erheben usw. Aber der Biochemikerin gefällts: Ein Leben back to basics. „Man lebt hier intensiv, einfach und pur. Eine Art Luxus-Wintercamping in rauer, einsamer, grandioser Natur.“ Und schliesslich kommt im Schnitt jeden Tag ein Schiff vorbei und bringt nicht nur Abwechslung und Besucher, sondern auch Informationen und frisches Obst. Diesmal geht sie mit einer Kiste Orangen von Bord.
Drake Lake, Drake Shake
Für unsere letzte Anlandung in der Antarktis ist die See ist zu wild. Wir bleiben an Bord. Die Zodiacs werden fest verzurrt, die Bullaugen mit eisernen Luken verschlossen, Schubläden und Schranktüren verschraubt, lose Dinge verstaut. Die Mittel gegen Seekrankeit sind längst verteilt, wer jetzt erst damit beginnt, ist zu spät. Sie wirken nur, wenn man sie vorher nimmt. Seasickness wird zum Wort des Tages.
Bei Schmuddelwetter und Nebel verlassen wir die Antarktis und tauchen in die Drake Passage ein. Die Wellen sind massvoll, vier bis fünf Meter hoch. „Unangenehm wird es bei zehn, zwölf Metern“, sagt Gonzalo Doren. Davon sind wir weit entfernt. Aber schon lichten sich die Reihen in der Messe. „Dann hilft nur ein voller Magen, gut mit Cola gespült, damit er mit Verdauen beschäftigt ist!“ Den Rat kennen wir inzwischen schon. Und er ist gut. Wir befolgen ihn mit Empanadas, Schellfisch mit Kartoffeln und chilenischem Tomatensalat und einem feinen Dessert.
Bewundernswert, wie die Kellner die Teller durch die Messe balancieren. Ihr Gang wird immer schräger. Vor, zurück, vor, vor, zurück. Mit breiten Beinen stemmen sie sich aufs Parkett und setzen zu seltsamen Pirouetten an. Das Schiff stampft und ruckt und rollt und schlingert durch die Wellentäler, ein Rhythmus wird das nicht. Speisen rutschen vom Teller, Decken vom Tisch, Sitzende vom Stuhl, aber die hässlichen Gummimatten auf den Tischen verhindern ein Ballett der Gläser und des Bestecks. Im Vortragssaal fährt ein Sofa mit zwei Personen von der einen Wand an die andere.
Die Wellen sind jetzt acht Meter hoch, die Sonne strahlt. Die einen leiden, andere amüsiert’s und Albatrosse lieben das Spiel der Wellen mit dem Schiff. Die Seevögel zeigen sich erst bei starkem Wind. Dann stellen sie ihre weiten Schwingen aus, gleiten entspannt über die Wellen und lachen, wenn an Bord das Elend herrscht.
Der Kapitän schliesst die Decks. Frischluftgänge sind untersagt, während wir die Antarktische Konvergenz überschreiten und die Temperatur abrupt um rund 10 Grad Celsius ansteigt. Verursacht wird der plötzliche Witterungswechsel durch das Aufeinandertreffen von kalten zu warmen Wassermassen zwischen dem 50. und 60. Breitengrad. Vor Kap Hoorn ist der Seegang so stark, dass der Käpitän den Kurs ändert. Die Antarctic Dream fährt in weitem Bogen um das berüchtigte Kap. Unsere Reise endet in Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, bei spiegelglatter See. Alles nur Theater? Drake Lake, Drake Shake. Nach vier Monaten gehen Mitte März alle Mann von Bord und die Antarctic Dream wird einen Monat lang in der Werft überholt, bis sie im Mai zu neuen Expeditionen am Nordpol aufbricht.

Die Reise wurde von Oceanstar ermöglicht.

 

Antarktis-Expeditionsreisen mit Oceanstar
Oceanstar, der Spezialist für Polarreisen und Schiffsexpeditionen von Travelhouse, bietet eine breite Auswahl an Aufenthalten in der Antarktis an. Informationen und Buchungen: Tel. 058 569 95 05, Mail info.oceanstar@travelhouse.ch, Internet www.travelhouse.ch/oceanstar.

Zwischen November 2012 und März 2013 finden mehrere Expeditionsreisen in die Antarktis statt – beispielsweise vom 22. bis 29. Dezember 2012. Diese 8-tägige Antarktis-Reise mit dem komfortablen Expeditionsschiff „Antarctic Dream“ von Punta Arenas nach Ushuaia ist ab CHF 8’550.- pro Person in der Aussenkabine buchbar, inklusive 7 Übernachtungen an Bord in der Doppelkabine mit Vollpension, Zodiac-Exkursionen, Vorträgen, Transfers sowie Sonderflug von Punta Arenas zur King-George-Insel.

Die Schiffsroute führt zu den schönsten Spots der Antarktischen Halbinsel, wie Hope Bay, Brown Bluff, Paulet Island, Cuverville Island, Neko Harbour, Lemaire Channel, Port Lockroy und Whalers Bay auf Deception Island. Dabei trifft man auf riesige Pinguinkolonien, Seelöwen, Seeelefanten, Wale und Seevögel. Die Reise ist auch als 11-tägige Seereise ohne Flug ab Punta Arenas bis Ushuaia oder umgekehrt buchbar.

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