FRONTPAGE

«Modeschöpfer-Star Karl Lagerfeld: Sehnsucht nach Unsichtbarkeit – ein Leben voller Widersprüche»

Von Marion Löhndorf

 

Schon in der Schule war Karl Lagerfeld gross im Schwadronieren, das hatte er selbst einmal gesagt. Erzählen, Erklären, Unterhalten, Bonmots perlen, Bosheiten peitschen lassen – und letztlich auch: Verkaufen, das beherrschte er wie kaum ein Zweiter seiner Zunft. Der Designer war ein brillanter Kommunikator. Er teilte sich nicht nur der Modeszene mit, sondern der ganzen Welt. Auch das machte ihn in seinem auf sich selbst bezogenen Metier so einzigartig.

Im Grunde hatten alle Zweige seiner vielfältigen Begabung mit der Vermittlung von Ideen zu tun, von der Mode und deren Vermarktung bis zur Ausstattung immer neuer Häuser, Schlösser, Villen. Wo Wörter nicht mehr ausreichten, mussten Bilder her. Er zeichnete unablässig, nicht nur für seine Ateliers, sondern zum Schluss auch Karikaturen. Als die Fotografen bei der Katalog-Bebilderung seiner Kollektionen nicht das brachten, was er wollte, griff er auch noch zur Kamera.

 

 

Sehnsucht nach Unsichtbarkeit
Von da an wurde das Fotografieren zum Selbstläufer, zu einer weiteren Passion, einer anderen Form der Mitteilung. Als Kind hatte er den Traum gehabt, «Porträtist oder Filmregisseur zu werden», wie er in einem seiner Fotobücher schrieb. Die Verbindung von Mode und Fotos bedeutete für ihn «Bilder einer idealisierten Wirklichkeit, wo Traum und Wahrheit sich auf halbem Wege treffen».

Die ganze Welt kannte ihn oder glaubte ihn zu kennen. Dabei wich er gern aus, wenn die Fragen allzu persönlich wurden, manchmal auch mit drastischen Antworten. Er war ein Extrovertierter, der seine Gefühle nur in stark edierter Form preisgab – bis sie so chic klangen, wie er sie haben wollte. Ein Star, der sich im Scheinwerferlicht verbarg. Überhaupt legte der Mann, der die Öffentlichkeit so liebte und der sein eigenes Profil mit Brille und Zopf zum Markenzeichen gestaltete, eine seltsame Sehnsucht nach Unsichtbarkeit an den Tag.
«Ich will keine Realität im Leben anderer sein und auch nicht in meinem eigenen», behauptete der Modeschöpfer 2007 in dem Film «Lagerfeld Confidential». Die Idee, er sei einsam, fand er klischeehaft und kanzelte den Interviewer ab: «Für Leute wie mich ist die Einsamkeit ein Sieg.» Er hatte verfügt, dass seine Asche mit der seiner Mutter und seiner grossen Liebe Jacques de Bascher vermischt werden und dann spurlos verschwinden sollte. Wo genau, sagte er niemandem. Auch einen Gedenkort sollte es nicht geben. Wie jedes Leben war auch seines voller Widersprüche.

 

 

Angereicherte Vergangenheit
Lagerfelds neuster und bester Biograf spürt ihnen nach. In seinem Buch «Karl Lagerfeld. Ein Deutscher in Paris» begegnet Alfons Kaiser dem Modedesigner mit grosser Sympathie, aber er bezieht auch seine unerfreulicheren Seiten mit ein. Schwungvoll erzählt, mit leicht ironischem Abstand, nimmt die Figur des Meisters menschliche Dimensionen an. Die enorme Grosszügigkeit, sein Mut, sein ausserordentliches, teilnehmendes Interesse am Leben seiner Mitarbeiter und seiner Entourage kommen zur Sprache, aber auch eine unglaubliche Biestigkeit gegenüber Konkurrenten und Kontrahenten.
Geradezu rot sah der Modekönig angesichts manchmal harmloser Fakten, deren Bekanntwerden er nicht wünschte, wie Kindheitsanekdoten oder sein Geburtsdatum, das er grosszügig nach vorn verlegt hatte. «Generell reicherte er seine Vergangenheit gern mit blühender Phantasie an», schreibt Kaiser, der ihn lange kannte. Lagerfeld, eine echte Diva, aber voller Selbstironie, unterhaltsam und oft amüsant. Und eben: eine höchst ergiebige Figur für eine Lebensbeschreibung.
Bei Alfons Kaiser erfahren wir so viel wie nirgends sonst über die Kindheit des kleinen Karl Otto, den erfolgreichen Vater und die bestimmende, lobende und kritisierende, formende und verletzende Mutter, den einzigen Menschen, mit dem er im späteren Leben je unter einem Dach zusammenleben sollte. Seinem Heimatland blieb er immer verbunden und sagte, überraschenderweise: «Im Grunde bin ich stinkdeutsch.»
Wir lesen über die frühen Verwundungen des Aussenseiters, der sich aber genauso früh zur Wehr zu setzen weiss. Wir verfolgen seine Liebe zu Paris, vor allem zur Gegend von Saint-Germain-des-Prés, seinen Aufstieg in der Modewelt mit der von ihm verantworteten Renaissance des lange moribunden Modehauses Chanel, die ihn endlich aus dem Schatten seines ewigen Konkurrenten Yves Saint Laurent heraustreten liess.

 

 

Labels ohne Ende
Immer war Lagerfeld Herr einer gelegentlich schwindelerregenden Zahl von Labels geblieben. Die Marke eigenen Namens schien wie ein Nachgedanke. Er mochte es, sich nicht exklusiv zu binden und Diener vieler Herren – oder Herrinnen – zu sein, von Chloé bis Fendi, dessen Doppel-F-Logo er erfand, und hin zu seiner Kooperation mit H&M, die erste in einer Reihe von Zusammenschlüssen der Firma mit grossen Designernamen.
Weniger bekannt ist, dass drei der wichtigsten Designer des beginnenden 21. Jahrhunderts in Lagerfelds Fendi-Atelier lernten, Pierpaolo Piccioli und Maria Grazia Chiuri, die zu Valentino (gemeinsam) und Dior (Chiuri) gingen, und Alessandro Michele, der seit 2015 Gucci zu neuen Erfolgen führte. Kaiser geht nicht so weit, sie als Lagerfelds geistige Erben zu bezeichnen. Doch hätten sie von ihm gelernt, wie man seine Ideen verwirklicht und eine innerlich unabhängige Haltung bewahrt «angesichts der Zumutungen des Geschäfts».
Dabei grundiert eine tiefe Kenntnis des Modebusiness die neue Biografie. Der Autor ist ein Fachmann, der sein Wissen leicht trägt und es elegant einfliessen lässt. Wer will, kann ganz nebenbei etwas über die explosive Entwicklung der Luxusbranche von den 1980er Jahren an lernen, auch über den damit einhergehenden Statuswandel der Designer selbst, die auf einmal mit geradezu feudaler Inszenierungsfreude auftraten.
Dazu gehörten auch die bis zum Anbruch der Pandemie immer prunkvoller werdenden Modeschauen: ein Genre, in dem Lagerfeld ganz in seinem Element war und in dem er Reflexion und Grandeur verschmelzen liess. Als sich der Unverwüstliche 2018 zum letzten Mal nach einem Chanel-Defilee verneigte, war er auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Bis zum Schluss war der 85-Jährige, der sich irgendwann entschieden hatte, sein Alter nicht zu leben, in seinem Studio präsent; ein Workaholic, dessen vielleicht grösste Liebe seine Arbeit war.

 

NZZ, 6.1.2021, mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
 

 
Alfons Kaiser
Karl Lagerfeld. Ein Deutscher in Paris.
Biografie
C.-H.-Beck-Verlag, München 2020.
383 S., 58 Abb., 26 €.

 

 

Bildlegenden:

Der deutsche Modezar Karl Lagerfeld 2008 an der Fashion Week in Berlin.
Miguel Villagran / AP

Lagerfeld, Jahrgang 1933, nahm sich Paris zur Wahlheimat.
Jack Nisberg / Roger Violett / Keystone

Karl Lagerfeld 1979 an seinem Zeichentisch als künstlerischer Leiter der Maison Chloé in Paris.
Daniel Simon / Gamma-Rapho / C.-H.-Beck-Verlag

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