FRONTPAGE

«Europa in der Zwickmühle zwischen Populisten und Bürokraten»

Von Ingrid Isermann

 

Ende Mai 2019 werden EU-Bürgerinnen und -Bürger zur Europawahl aufgerufen, genau 40 Jahre nach der ersten Wahl 1979. Jubiläen sind ein Grund zum Feiern, doch derzeit steckt die Demokratie in Europa auch wegen des Brexit in einer ernsthaften Krise. Niklaus Nuspliger beleuchtet Aspekte und Symptome und stellt in seinem Buch zehn Thesen zur Diskussion, wie die Demokratie in Europa erneuert werden könnte.

Es war die erste internationale Wahl der Weltgeschichte und eine Wegmarke für die Demokratie in Europa: 1979 konnten die Wählerinnen und Wähler aus Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Dänemark, Irland und Grossbritannien zum ersten Mal insgesamt 410 Europaabgeordnete direkt ins Europäische Parlament wählen, schreibt Niklaus Nuspliger in der Einleitung seines Buchs «Europa zwischen Populisten-Diktatur und Bürokraten-Herrschaft».

40 Jahre später ist die Euphorie zeitweilig verflogen und die Europawahl steht 2019 für die Krise, in der sich die europäische Demokratie gegenwärtig befindet.

 

Zum einen sind es die Turbulenzen rund um den britischen Brexit: Europa muss sich erstmals mit einem Austritt eines Mitglieds aus der EU befassen. Grossbritannien tut sich schwer mit dem Abschied von der EU: der ursprüngliche Austrittstermin vom 29. März 2019  ist auf Bitten der britischen Premierministerin Theresa May bereits mehrmals von der EU verschoben worden, jetzt auf den 31. Oktober 2019.

Zudem zeigen manche EU-Skeptiker, die bei der Europawahl zum Sturm auf Brüssel blasen, illiberale bis offen autoritäre Tendenzen. Ein weiterer Faktor ist die Befürchtung von Fake News und russischer Propaganda im digitalen Wahlkampf. Um sich davor zu schützen, hat die EU den Druck auf Internetplattformen erhöht, was wiederum Furcht vor behördlicher Zensur auslöst. Auch zeigt der erbitterte Kampf zwischen Nationalisten und Proeuropäern, dass der heutige Aufbau der EU einige demokratiepolitische Fragen aufwirft.

 

 

Demokratische Rezession
Weltweit ist derzeit ein Konkurrenzkampf zwischen autoritären und offenen Gesellschaftsmodellen im Gange, in dem die Demokratien auch intern unter Druck geraten. Das Phänomen, das in Europa zu beobachten ist, bezeichnet der Politologe Larry Diamond als demokratische Rezession. Nuspliger: «Die Volksparteien verlieren an Rückhalt, das Vertrauen in die Institutionen schwindet. Ein Symptom dieser Rezession ist der kontinuierliche Rückgang der Stimmbeteiligung bei der Europawahl – von 63 Prozent 1979 auf 42,6 Prozent im Jahr 2014».  In der Schweiz liegt die Stimmbeteiligung noch tiefer, an den Zürcher Regierungsrats- und Kantonsratswahlen 2019 nur bei gerade 31 Prozent, was nicht als Erosion, sondern mit der ansonsten gut funktionerenden verwalteten Schweiz interpretiert wurde.

 

Zwei gegensätzliche Trends
Nuspliger diagnostiziert zwei gegensätzliche Trends, die die Demokratie im kommenden Jahrzehnt gefährden können: Einerseits drohen populistische Parteien und Politiker mit autoritären Tendenzen eine Diktatur der Mehrheit zu errichten, in der die demokratischen Spielregeln, die Gewaltentrennung und die Grundfreiheiten beschädigt und schleichend ausser Kraft gesetzt werden.

Andererseits droht das politische Establishment aus Angst vor Populismus und im Glauben an objektive Wahrheiten und die Unfehlbarkeit neuer Technologien eine Technokratie zu errichten, die die Bevölkerung zunehmend entmachtet. Beides gefährdet letztlich genau das, was beide Seiten zu verteidigen behaupten: die demokratische Freiheit.

Die Krise der Demokratie in Europa ist mithin vor allem eine Krise der liberalen Demokratie.

 

 

Spannungsfeld Demokratie- und Rechtsstaatprinzip
Das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip stehen immer auch in einem Spannungsfeld zueinander. Populisten und Nationalisten betrachten rechtsstaatliche Schranken mit besonders grosser Skepsis. In ihren Augen darf eine demokratische Mehrheit beschliessen, was immer sie will. Fatal wirkt sich aber auch die Wahrnehmung aus, das Demokratieprinzip werde zunehmend ausgehebelt. Immer mehr Menschen glauben, die Politik stehe im Dienst von Lobbyisten, eigenmächtigen Bürokraten und multinationalen Firmen, während die Interessen der Bevölkerungsmehrheit immer weniger zählten, so der Autor.

 

 

Zehn Thesen für die Wahrung der Demokratie in Europa
Niklaus Nuspliger hat das Buch als «Reise an Schauplätze der europäischen Demokratie» konzipiert, die den zehn Kapiteln jeweils als thematischer Ausgangspunkt dienen. Ein Kongress rechtspopulistischer Parteien in Koblenz nutzt er beispielsweise, um «den Gründen und Folgen der autoritären Welle» nachzugehen.

In Budapest untersucht er, wie gewählte Politiker die demokratische Ordnung Schritt für Schritt untergraben können. Bei einem virtuellen Besuch in Reykjavík» spürt er «den Verheissungen der digitalen Demokratie nach. Und in der französischen Provinz sucht er nach Formen der Bürgerbeteiligung, die die Demokratie zukunftsfähig machen.

 

 

Zum Abschluss des Buchs formuliert Nuspliger zehn Thesen «zur Wahrung der Demokratie in Europa» und führt diese aus. Sie lauten beispielsweise:
Demokratie heisst Ermächtigung statt Entmündigung
Mehr Nationalismus heisst weniger Demokratie
Mehr Macht für das Volk heisst nicht alle Macht für das Volk

 

 

Niklaus Nuspliger (* 1980 in Bern) studierte Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen in Genf, Madrid und Sydney. Als Journalist war er für die Berner Tageszeitung Der Bund tätig, 2007 trat er in die Inlandredaktion der NZZ ein. Nach drei Jahren als Bundeshausredaktor in Bern berichtete er aus New York u.a. über die UNO und den amerikanischen Wahlkampf 2012. Seit Ende 2013 ist er als politischer Korrespondent in Brüssel zuständig für die EU, die Nato und die Beneluxstaaten.

 

 

Niklaus Nuspliger
Europa
zwischen Populisten -Diktatur
und Bürokraten-Herrschaft
NZZ Libro-Verlag, 2019
200 S., CHF 24.
ISBN 978-3-03810-402-5

 

 

NZZ-Gespräch mit Korrespondenten

mit Niklaus Nuspliger und Andrea Spalinger und Ivo Mijnssen, Oderation

Europa zwischen Populismus und Demokratiemüdigkeit

Dienstag, 21. Mai 2019, 18.30 – 20 Uhr mit anschliessendem Apéro

NZZ-Foyer, Falkenstrasse 11, 8008 Zürich

Anmeldung nzz-ch/live, 044 258 13 83

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