FRONTPAGE

«Eine Allianz der Schuldigen: Iphigenie auf Tauris»

Von Ingrid Isermann

 

Verantwortung und Schuld: Iphigenie stellt sich der Gewalt und Logik der Männer entgegen und ihrem Krieg gegen die Barbaren. Sie setzt auf die Haltung der Humanität. Die Darstellerin der Iphigenie Sabine Waibel (*1972 in Wien) ist erstmals am Theater Neumarkt zu sehen und beeindruckt mit ihrer brillanten sprachmächtigen Interpretation der Goethe-Verse und des höchst aktuellen Schauspiels.

Die Geschichte ist bekannt, kompliziert und komplex, die Tragödie der Griechen dauert fort. Das Video des Regisseurs und Choreografen Joachim Schloemer im Vorfeld der Bühnenaufführung knüpft an die Folgen kriegerischer Prozesse an.

Wer mit dem Stück nicht so vertraut ist, sollte vor dem Theaterbesuch lieber noch die Geschichte nachlesen, die sich nicht ohne weiteres auf der Bühne erschliesst. Links stehen Kleiderständer wie bei einer Modeschau, rechts im langgezogenen Theatersaal spielt eine Combo mit Keyboard und drei coolen swingenden Motown-Girls, deren englische Songs (Komposition C. Mysia) neu für das Stück geschrieben wurden. In einem Kubus (Jo Schramm), der jeweils von links nach rechts über die Bühne geschoben wird, sitzt Iphigenie fröstelnd mit nackten Füssen und einem dünnen weissen Blüschen und kurzem Jupe.

 

Goethes Kriegsstück von 1787 greift mit seinen Versen auf das letzte Kapitel der antiken Atriden zurück. Iphigenie, Tochter des griechischen Feldherrn Agamemnon, wurde von der Göttin Diana auf die Halbinsel Tauris entführt, wo sie seit vielen Jahren lebt: «… Doch immer bin ich fremd … Und an dem Ufer steh ich lange Tage, das Land der Griechen mit der Seele suchend».

Ihr Vater Agamemnon hatte ihrer Opferung zugestimmt, um die Ausfahrt seines Heers nach Troja zu ermöglichen. Iphigenie wird von den Griechen und ihrer Familie für tot gehalten.

Troja ist gefallen und Agamemnon von seiner Frau Klytämnestra ermordet worden. Die Geschwister Elektra und Orest irren herum, der kriegsmüde Orest (Maximilian Kraus) landet nach seiner Flucht auf Tauris, er hat seine Mutter Klytämnestra getötet und ist halbwahnsinnig auf der Flucht vor den Rachegöttinnen, den Erinnyen: die «Motown-Girls» (Solene Garnier, Janet Rothe, Yanna Rüget) im glitzernden Goldkleid stimmen ihre unheilschwangeren Songs an, die Orest in den Ohren dröhnen «Run, run, run … you got to go!». Die Lage auf der Halbinsel Tauris (so hiess die Krim vor 2500 Jahren) ist angespannt, lange wurden Fremde als Eindringlinge hier rituell als Menschenopfer getötet. Iphigenie, die das Töten der Fremden beendet hatte, sitzt erstarrt in ihrem weissen Kubus mit kaltem Neonlicht. Als sie das Werben des Königs Thoas (Martin Butzke) ablehnt, ihn zu heiraten, verschlechtert sich ihre Situation rapide. Der König befiehlt, wiederum die neuen Gefangenen Orest und seinen Freund Pylades, der Göttin Diana zu opfern.

Bei der Begegnung mit Iphigenie – «ich bin’s Iphigenie, Agamemnons Tochter, Elektras Schwester … es löse sich der Fluch» – hält Orest sie zunächst für eine der Erinnyen; der Fluch ist erneut wirksam, die Schwester als Priesterin muss den Bruder töten.

Jetzt geht es für die Griechen nur noch darum, zu fliehen … «es fürchte(n) die Götter das Menschengeschlecht». Der König soll hintergangen werden. Doch Iphigenie weigert sich zu lügen: «… es ist der Zweifel, der Gutes böse macht» und erzählt dem König vom Plan der Flucht, «der Zufall, dessen Meister wir nicht sind». Sie will sich selbst opfern. «Du entsühnst den Fluch, ich untersuche nicht, ich fühle nur» … Der König kämpft mit sich und befiehlt ihr, mit Orest zu gehen: «Tu, was dein Herz dich heisst». König Thoas bleibt allein zurück, ein Herrscher ohne Erben, sein kleiner Staat ist destabilisiert. Die Humanität hat gegen die Barbaren gesiegt, «eine Allianz der Schuldigen» als eindringliche Aufforderung, sich zugunsten der Solidarität zu versöhnen. Zum Schluss nimmt Iphigenie einen Trenchcoat von der Kleiderstange, zieht Stiefeletten an und geht. These Boots are made for walking …

 

Goethe schreibt ein Stück gegen den Krieg und rekrutiert gleichzeitig als Weimarer Kriegsminister Truppen für den König von Preussen. Ein Widerspruch. Goethe feilt an den Versen und der Sprache und sucht nach einem Ausweg und einer Fluchtlinie. Die «Iphigenie» findet ihre Lösung für drohende Konflikte, die bis heute gültigen Argumente der Humanität. Aber die Form des Dramas ist eine dünne Haut, darunter bebt es, die Scharniere knirschen, wie Heiner Müller es ausdrückte. Die Barbarei, gegen die das Stück anschreibt, lässt sich nicht austilgen. «Verteufelt human» nannte Goethe später skeptisch selbst sein Werk. Dennoch, was das europäische Denken bis heute aufzubieten hat gegen die Logik wechselseitiger Gewalt, nimmt Iphigenie vorweg: die Humanität, die Menschenrechte und den Anspruch, sie sollen für alle Menschen gleich sein. So lautet die Theorie, von der die Praxis so oft abweicht. Eigentlich würde ich einen Klassiker auch gerne mal als Klassiker sehen, obwohl das jetzt nicht im Trend liegt. Denn die eigene Übersetzung von der Antike zur Moderne im Kopf könnte auch ganz lustvoll sein.

 

 

Iphigenie auf Tauris

Von Johann Wolfgang von Goethe

Regie: Joachim Schloemer

Mit: Sabine Waibel, Martin Butzke, Maximilian Kraus,

Janet Rothe, Yanna Rüger,

Solene Garnier (Live-Musik)

Bühne: Jo Schramm

Kostüme: Nicole von Graevenitz

Dramaturgie: Ralf Fiedler

Musik: C. Mysia

Premiere: 26. März 2015, 90 Minuten

Veranstaltungsdaten: www.theaterneumarkt.ch

 

 

 

 

Schauspielhaus Zürich: «Die Zofen – paint it black»

 

Das weltberühmte Theaterstück von Jean Genet (1910-1986) feiert auf der Bühne des Schauspielhauses Zürich ein Come-back: Regisseur Bastian Kraft setzte das Erfolgsstück kurzweilig und fernnervig mit einer irritierenden Video-Performance um.

 

Die Schwestern Claire und Solange planen, ihre gnädige Frau, der sie als Zofen dienen, zu vergiften. Die gnädige Frau mit ihrer herablassend gütigen Art bringt die Schwestern in Rage: «Es ist einfach, gütig zu sein, wenn man reich und schön ist». Sie bemerken die falschen Töne hinter dem freundlichen Getue. «Liebe in Knechtschaft geht nicht… ich habe es satt!». Lieber probieren sie die kostbaren Kleider der Herrin an, und kosten das Mordkomplett aus. Schon lange währt der Plan, den sich die Schwestern in einer Rollenprosa angeeignet haben, der Realisation. Nun scheint der Tag gekommen, an dem das Vorhaben Wirklichkeit werden sollte.
Den Monsieur haben die Schwestern mit falschen Anschuldigungen hinter Gitter gebracht. Doch da stört ein Anruf das geplante Szenario, dass der gnädige Herr wieder auf freiem Fuss ist. Den vergifteten Lindenblütentee, den die gnädige Frau (Susanne-Marie Wrage in Hochform) trinken soll, lässt sie stehen und eilt von dannen. Die Schwestern verfangen sich in hektischen Beratungen, bis die Illusionen die Wirklichkeiten überbieten.
Claire (Lena Schwarz) spielt die gnädige Frau, die sich auf Geheiss der Schwester (Olivia Grigolli) mit dem Lindenblütentee umbringt, während diese das Zimmer schwarz anmalt, den ganzen Dreck nach aussen kehrt, als den sie sich als Dienstmädchen gefühlt haben.
Das in Weiss Ton-in-Ton elegant gestaltete Bühnenbild und die Kostüme (Ben Baur) sind eine Augenweide; die beunruhigende Video-Performance (Kevin Graber), die über die ganze Bühne läuft und die Gesichter der beiden zum Verwechseln ähnlichen Schwestern in Grossaufnahmen zeigt, wird untermalt von der bedrohlichen Musikbegleitung (Arthur Fussy).
Das Kammerspiel schrieb der Aussenseiter Jean Genet, verfemt als Krimineller und Homosexueller, nach einer wahren Begebenheit, als die Schwestern Papin, die als unscheinbare, ruhige Bedienstete galten, 1933 die ganze Familie, bei der sie angestellt waren, bestialisch ermordeten. Der Fall wurde nicht nur in der Presse, sondern auch von den Intellektuellen jener Zeit angeregt diskutiert. Der junge Psychoanalytiker Jacques Lacan schrieb wenige Wochen später einen Essay darüber, in dem er seine Grundlagen zur Psychoanalyse darlegte. Genet interessierte nebst dem Verbrechen und den Machtverhältnissen vor allem das Spiel selbst sowie das Ritual. Das Stück begründete seinen Ruhm als Theaterautor und repräsentiert auch den Aufbruch zum modernen Theater.

 

 

 

Die Zofen
Von Jean Genet
Aus dem Französischen von Gerhard Hock
Premiere: Samstag, 11. April 2015
Veranstaltungsdaten: www.schauspielhaus.ch

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