FRONTPAGE

«Anne Tyler: Ein Haus in Baltimore und seine Bewohner»

Von Ingrid Schindler

 

Baltimore ist Wohnsitz der US-Schrifstellerin Anne Tyler und Schauplatz ihres jüngsten Romans «Der leuchtend blaue Faden». Nicht das Baltimore, das man aus den Nachrichten kennt, das Baltimore der Rassenunruhen, wo weisse Polizisten Schwarze zu Tode bringen, nicht die Hafenstadt, die für den Niedergang amerikanischer Grossstädte steht, sondern das Baltimore des amerikanischen Traums, der weissen Aufsteiger, des gutbürgerlichen Familienidylls mit Villa im Grünen und Strandhaus am Meer.

So eine repräsentable Familienvilla mit aus- wie einladender Veranda ist denn auch der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des neuen Romans der publikums- und medienscheuen Pulitzerpreisträgerin, die zu den Grossen der amerikanischen Gegenwartsliteratur zählt. Familiengeschichten sind ihr Ding. Schon vor einem halben Jahrhundert stellte die heute 73-Jährige, die über Turgenjew promovierte, das komplexe Psycho-Konstrukt Familie ins Zentrum ihres Schaffens.
In «Der leuchtend blaue Faden» erzählt Tyler nun die Geschichte der Whitshanks, einer neuen Familie“, die noch „nicht unter allzu vielen Geschichten wählen“ konnten und deshalb „eben aus dem, was sie hatten, das Beste machen“ mussten. Der Leser erfährt dabei die Geschichten praktisch aller Familienmitglieder, doch zur typischen Legendenbildung taugten im Wesentlichen nur zwei: die Geschichte des Grossvaters und Familiengründers Junior Whitshank und die seiner Tochter Merrick. „Ein Aussenstehender hätte sagen können, dass das eigentlich keine richtigen Geschichten seien. Ein Mann kauft ein von ihm bewundertes Haus, als es endlich auf den Markt kommt. Eine Frau heiratet einen Mann, der früher mit ihrer Freundin verlobt war. Dergleichen passiert ständig.“ Dank solch verblüffend nüchterner Statements entfalten die Geschichten Sogwirkung und Spannung.
Tyler spielt mit der Anziehungs- und Abstossungskraft von Familie. Sie springt von einer Perspektive zur anderen, lässt den Leser mal in die Gefühlswelt des Enfant terrible der Familie, Denny, eintauchen, mal hinter die Beweggründe des Musterknaben Stem blicken, der als Kuckucksei im behaglichen Nest der Familie landete und mehr echter Whitshank als ein geborener ist. Mal zieht sie einen in die Rolle der Schwiegermutter Linnie Mae, mal in die der Schwiegertochter Abby – und erzeugt dabei immer beim Leser ein Wechselbad der Gefühle.
Abby ist die gute Seele der Whitshanks, zuständig fürs Familienidyll. Ihr Schlüsselsatz: „Es war ein wunderschöner gelb und grüner Vormittag und ein laues Lüftchen wehte“. „Sie machte sich ständig Sorgen“, heisst es, „sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihre Familie nur eine weitere verkorkste, unzufriedene, gewöhnliche Familie war.“ Genau solche Sätze machen Tylers Familienchronik erträglich. Es sind die Brüche und Risse und die stimmigen Bilder, die den blauen Faden lesenswert machen. Blut ist dicker als Wasser, desillusioniert.
Aufregend wirkt das Model Familie nur von Aussen betrachtet. In der Fantasie derer, die die Familie nicht kennen. Wie die Nachbarfamilie vom Strandhaus. Seit 36 Jahren fahren die Whitshanks wie ihre Feriennachbarn in dasselbe Strandhaus. Man kennt sich nicht und beobachtet sich aus der Distanz doch genau, was zu einer Fülle von Spekulationen führt. „Was wäre, wenn wir jetzt einfach rübergingen und uns vorstellen würden?“, fragt Whitshank-Enkelin Jeannie. Darauf Amanda, die andere Enkelin: „Das wäre eine Ernüchterung. – Sie sind doch gewissermassen wie wir.“
Wie die meisten Familien bildeten sich die Whitshanks ein, „etwas Besonderes zu sein.“ Aber, so die Autorin, an ihnen „war nichts Bemerkenswertes. Keiner von ihnen war berühmt. Keiner von ihnen konnte aussergewöhnliche Intelligenz geltend machen. Und was das Äussere betraf, waren sie nicht mehr als Durchschnitt.“
Und was das wunderschöne Whitshank-Haus in Baltimore angeht: Es wurde, obwohl es für Familiengründer Junior alles war, wonach er strebte, so herzlos abgestossen wie Abby’s „kleines plumpes Keramikhaus, bemalt in naiven Rot-, Grün- und Gelbtönen“ als Sperrmüll entsorgt.
Ein bemerkenswertes Buch über eine Familie, die „in keiner Weise bemerkenswert“ war, so die Autorin.

«Der leuchtend blaue Faden» ist das Porträt einer Familie, wie nur Anne Tyler es zeichnen kann: schonungslos, liebevoll, mit feinem Witz und ungeheurer Empathie. Sie blickt tief in die Seele ihrer Figuren und ist mit ihrem Gespür für die Feinmechanik familiärer Betriebsschäden ganz nah am Leben.

 

Anne Tyler, 1941 in Minneapolis, Minnesota, geboren, wuchs in Noth Carolina auf und studierte an der Duke University und der Columbia University Slawistik. Bevor sie sich als freie Schriftstellerin selbständig machte, arbeitete sie als Bibliothekarin und Bibliografien. Ihr Roman «Atemübungen» erhielt 1989 den Pulitzer-Preis.

 

«Ich wusste gar nicht, dass Romanschriftstellern gestattet ist, was Tyler macht – mit Geist, Witz und Herz über das Familienleben zu schreiben. Anne Tyler hat mein Leben verändert».  Nick Hornby

 

 

Anne Tyler

Der leuchtend blaue Faden

Roman

aus dem Englischen von Ursula-Maria Mössner

Hardcover, 452 S.

CHF 28.90. € 22.90

ISBN 978-3-0369-5712-B

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