FRONTPAGE

«David Hockney: Movement totale – Perspektiven der Vitalität und Lebensfreude»

Von Ingrid Isermann

 

Die Retrospektive «Moving Focus» ist die erste umfassende Ausstellung des britischen Malers David Hockney (*1937) in der Schweiz im Kunstmuseum Luzern. Vom Beginn am Londoner Royal College of Art bis zu neuen i- Pad-Zeichnungen sind 120 Werke zu sehen, Hockneys künstlerische Experimente der wechselnden Perspektiven.

 

Luzern, mit der Schönheit der Landschaft, ringsum von hohen Bergen umgeben und des blaugrünen Vierwaldstätter Sees, scheint wie geschaffen, die Farbenpracht von Hockney als Echo widerzuspiegeln. Die Retrospektive in Luzern, die Interaktion mit den farbenfrohen Werken, elektrisiert wie eine Leichtigkeit des Seins, die ansteckend wirkt.

Luzern hat zu David Hockney eine besondere Beziehung. Davids verstorbener Freund René war der Bruder von Rosmarie Amrein in Luzern, deren Familie mehrere Werke Hockneys besitzt. Eine Koinzidenz, dass die Retrospektive nun im Kunstmuseum Luzern stattfindet, so Direktorin und Kuratorin Fanny Fetzer. Zu sehen sind bedeutende Leihgaben aus öffentlichen und privaten Sammlungen in Europa und Nordamerika.

 

Berühmt wurde David Hockney in den 1960er-Jahren in Los Angeles mit coolen kalifornischen Poolbildern wie «A bigger Splash» (1967), die als Ikonen erotischer Phantasien unter blauem Himmel Furore machten.
In den 1970ern überrascht Hockney mit lebensgrossen Doppelporträts: «Mr. and Mrs Clark and Percy», eine naturalistische Szene mit einem befreundeten Designerpaar und ihrer Katze, wirkt wie ein Standbild aus einem Film, den man jeden Moment im Kopf abspielen kann.

 

Der Frühling findet statt
Die Zeit der Pandemie hat Hockney in seinem Haus in der Normandie verbracht. «Spring cannot be cancelled», sagt der nunmehr 85jährige Künstler. Er betrachtet die Bäume wie in einer Meditation, wie Blüten und Blätter spriessen und zeigt diese kleinen Ereignisse, die in ihrer Schönheit tröstlich sind.
Selbst wenn viele Ausstellungen abgesagt oder verschoben wurden, der Frühling findet dennoch statt. Der Reichtum der Blüten und Bäume existiert auch in einer bedrohten Welt, und indem Hockney auf die Schönheit der Natur fokussiert, widersteht er der Resignation. Hockney konzentriert sich auf das Wesentliche der Schönheit, nicht auf die Verluste. Das macht seine Bilder so attraktiv und lebensfroh.

 

Meditative Malerei wie ein Zen-Gedicht

Seine Collagen aus Polaroidaufnahmen führen den beweglichen Fokus weiter und zeigen den im Raum herumwandernden Blick: In Bewegung zu bleiben, einen anderen Blick zu wagen und die Möglichkeitsperspektive einzunehmen, im Momentum zu leben und sich die Freude am Leben zu bewahren, an der Schönheit der Welt.

So sind seine Bilder im eigentlichen Sinne poetisch zu nennen. Er beobachtet, wie sich die Natur im Laufe der Jahreszeiten verändert. Schneefall, Welle, Blumenstrauss sind von epischer Schönheit wie ein Zen-Gedicht.

Hockneys grösstes Gemälde misst über 12 Meter. Auf 50 einzelnen Leinwänden zeigt es eine Ansicht seiner englischen Heimat Yorkshire kurz vor Frühlingsbeginn. Während Wochen fährt der Künstler zwischen dem Atelier und dem Waldstück hin und her und bearbeitet jeweils sechs bis zehn Leinwände gleichzeitig. Um den Überblick zu behalten, fügt David Hockney die Bilder am Computer zusammen.

 

Eine ebenfalls mehrteilige Landschaftsansicht zeigt einen zauberhaften Wald mit bunten Blättern und Rankengewächsen. Die beschwingte Darstellung erinnert an Comics und nimmt Hockneys spätere iPad-Zeichnungen vorweg, die als Videoanimation präsentiert werden.

Zu sehen sind auch Hockneys ikonische Poolbilder sowie Porträts, darunter das berühmte grossformatige Elternporträt und zwei frühe Serien mit Radierungen: «Der Werdegang eines Wüstlings», inspiriert von William Hogarth, deren Veröffentlichung mit der Entkriminalisierung der Homosexualität 1967 in Grossbritannien zusammenfällt.

 

Moving Focus
David Hockneys Neugier prädestinierte neue Stile und verändert damit auch unsere Sehgewohnheiten. Auch mit der grossformatigen Atelieransicht trickst Hockney das perspektivische Sehen aus. Das Werk ist nicht einfach eine Fotografie, sondern wie er sagt, eine «fotografische Zeichnung»: Das Bild setzt sich aus 3000 digitalen Fotografien zusammen. Durch die minimale Verschiebung des Fokus entsteht ein zeichnerischer Effekt, der die Umrisse weich erscheinen lässt. Hockney: «Die meisten Menschen glauben, dass die Welt aussieht wie das Foto von ihr. Ich habe immer unterstellt, dass das Foto fast Recht hat».

 

Die begleitende reich bebilderte Publikation mit einem Vorwort von Maria Balsham, Direktorin Tate und einem Essay von Fanni Fetzer, Direktorin Kunstmuseum Luzern sowie verschiedenen Künstlerbeiträgen von u.a. Allen Jones, Ed Ruscha, Walter Pfeiffer, Frank Gehry,  ist erhältlich im Kunstmuseum Luzern und im Buchhandel. Hatje Cantz, Berlin 2021.  CHF 48. ISBN 978-3-7757-5121-6.

 

Gespräch in der Ausstellung
Mittwoch, 17.09., 18 Uhr
Fanni Fetzer, Kuratorin, spricht mit Martin Gayford, Autor und Freund von David Hockney
Digitale Tour
www.hockney2022.ch
Reise durch Hockneys Biografie und Motive
Öffentliche Führungen Di–Sa um 15 Uhr, So um 11 Uhr und bei starker Nachfrage zusätzlich um 12 Uhr

 

Ausstellung 9.7.-30.10.2022, kuratiert von Fanni Fetzer und Helen Little
Kunstmuseum Luzern
Europaplatz 1, 6002 Luzern
www.kunstmuseumluzern.ch

 

 

«Jacqueline Burckhardt: La mia commedia dell’arte – Kunst als Lebenselixier»

 

Der schöne Titel ist Programm und ihr Lebenselixier die internationale Kunstszene, in die Jacqueline Burckhardt uns einführt, in ihre persönliche Welt der Erinnerungen, Analysen und Betrachtungen im inspirierenden Gespräch mit Kurator und Kunsthistoriker Juri Steiner.

 

Das Umschlagcover «La mia commedia dell’arte» fällt gleich ins Auge, da wird Kunst nicht nur angekündigt, sondern auch bildlich zelebriert. Das macht Lust auf den Inhalt. Und in der Tat, beginnt man einmal zu lesen und dem leichtfüssig geführten Gespräch von Kunsthistoriker Juri Steiner, heute Direktor des Musée cantonal des Beaux-Arts in Lausanne, mit Jacqueline Burckhardt zu folgen, erschliessen sich spielerisch neue Welten, wobei die mitreissende Italianità unverkennbar ist.

 

Im Vortragssaal des Kunsthauses stellt Jacqeline Burckhardt ihr Buch zusammen mit Juri Steiner vor, ein illustres Publikum mit Weggefährten ist gekommen und lauscht ihren Ausführungen. Und die sind keine Minute langweilig. Ob Pipilotti Rist im Saal ist, wird gefragt, ja natürlich, denn auch über sie hat Jacqueline einen Beitrag verfasst.  Im Intermezzo finden sich dann wechselseitig Beiträge von Kunstschaffenden wie Laurie Anderson, Kurt W. Forster, Pipilotti Rist, Katharina Fritsch, Herbert Lachmayer über die Kunstkritikerin.

 

Im Buch erklärt Jacquelin Burckhardt, wie es zum Titel kam: «… in der Commedia dell’arte geht es nicht nur um Lustiges, denkt man an die Reise in Dantes Divina Commedia, die durch die Hölle über das Fegefeuer ins Paradies führt. Der Titel war ein spontaner Einfall. Und damit die Gestaltung des Covers zum Titel passt, haben wir Herbert Lachmayer und Kai Matthiesen angefragt, ob sie ein Hermeneutic Wallpaper gestalten wollen. Auf dem Cover des Buchs treten nun spielerisch verbunden wunderbare Menschen auf, denen ich vieles verdanke und die mit Bildern und Texten zu diesem Buch beigetragen haben. Es erscheinen auch die Köpfe von Giulio Romano, Isabelle d’Este oder von Kairos wie auch mein Lieblingstier, der Oktopus».
 
In ihren Textbeiträgen schreibt Jacqueline Burckhardt über die befreundete Künstlerin Meret Oppenheim, über Laurie Anderson, Robert Wilkson, Pipilotti Rist, Alex Katz, Katharina Fritsch, Sigmar Polke. Man erfährt beiläufig viel über die Kunst und das Leben der Porträtierten aus der persönlichen Sicht von Jacqueline Burckhardt, was die Texte sehr lesbar und anschaulich macht.

Was die Kunstexpertin zu ihren Tätigkeiten als Restauratorin, Kunsthistorikerin, Initiatorin des Performance-Programms im Kunsthaus Zürich und als langjährige Mitherausgeberin der Kunstzeitschrift «Parkett» mit Bice Curiger zu sagen hat, ist ein Füllhorn der zeitgenössischen Kunstszene.

Im Gespräch mit Juri Steiner wird das Wort «Inter esse» erläutert, das im Lateinischen ein Dazwischen- und Mittendrin-Sein bedeutet. Somit fügt sich Kunst und Konversation zu einer erhellenden Arbeits- und Denkbiografie Jacqueline Burckhardts.

 

Topos Kairos
Die Themen der Wirkungsbereiche handeln von der «doppelten Geschichtlichkeit des Kunstwerks», die es speziell beim Restaurieren zu berücksichtigen gilt. Jacqueline Burckhardt erläutert, wie bravourös Giulio Romano, «Regisseur einer verlebendigten Antike» damit spielt. Sinniert wird über Herbert Lachmayers Begriff der «Geschmacksintelligenz» oder über die metaphysische Qualität eines Kunstwerks. Wir begegnen «Kairos», dem Gott des günstigen Augenblicks sowie u.a. Isabella d’Este.
Ein zauberhaftes und wissenswertes Kompendium!

 

 

Jacqueline Burckhardt, geboren 1947 in Basel, wuchs in einer Diplomatenfamilie in Prag, Oslo, Stockholm und Bern auf. Nach der Matura bildete sie sich im Istituto Centrale del Restauro in Rom als Restauratorin aus. 1978 schloss sie ein Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und der aussereuropäischen Kunst in Zürich ab und promovierte 1989 über «Giulio Romano, Regisseur einer verlebendigten Antike». Sie arbeitete an Restaurierungskampagnen in Italien, Spanien, Irland, Rumänien, Türkei und war mehrere Jahre als Restauratorin im Kunsthaus Zürich tätig, wo sie ein Performance-Programm initiierte. 33 Jahre war sie Mitherausgeberin und Redaktorin der Kunstzeitschrift «Parkett». Sie lehrte an der Accademia di architettura in Mendrisio und kurierte die ortsspezifische Kunst auf dem Novartis-Campus in Basel. Sie präsidierte die Fondation Nestlé pour l’art, die Schweizerische Graphische Gesellschaft und die Eidgenössische Kunstkommission. Jacqueline Burckhardt lebt und arbeitet in Zürich.

 

 

 

Jacqueline Burckhardt
La mia commedia dell’arte
Herausgegeben von Theres Abbt und Mirjam Fischer
Edition Patrick Frey, Zürich 2022

Mit einem Vorwort der Herausgeberinnen und Gespräch
von Juri Steiner mit Jacqueline Burckhardt
Softcover, 392 S., 297 Abb., 23.5 × 17 cm
Cover: Herbert Lachmayer und Kai Damian Matthiesen,
Buchdesign: Martina Brassel
CHF 48. € 48.
ISBN 978-3-907236-30-7

 

 

 

«Luca In Memoriam 1945-2019:
Metamorphosen im Flugschatten der Malerei»

 

Luca Gansser, geboren 1945 in Bogotá/Kolumbien, wuchs in einer Schweizer Geologenfamilie in verschiedenen Ländern und Kontinenten auf. In der Schweiz besuchte er ein Internat und kurzzeitig die Kunstgewerbeschule, arbeitete als Junior Art Director für eine Werbeagentur in Basel und begann dann ein Leben als nomadisierender Künstler, u.a. von Asien, Australien bis nach Nord- und Südamerika. 2019 ist Luca Gansser in seinem italienischen Domizil in Viterbo nördlich von Rom gestorben.

 

In Memoriam ist eine Monografie erschienen, die erstmals die ganze Bandbreite seines Schaffens zeigt. Geprägt von den vielfältigen Inspirationen seiner Reisen entdeckt man auch spirituelle Visionen und Götter der asiatischen Kultur, die Gansser faszinierten und nicht losliessen.
 
Die Interaktion mit anderen Kulturen und die künstlerische Suche nach der Essenz des Lebens kennzeichnet seine Motivation für ein nomadenhaftes Leben. Immer wieder zieht es den Maler in die Fremde, wie anfangs der 70er Jahre in das für Europäer weitgehend noch verschlossene Bhutan zu einem Lama, um die Geheimnisse der östlichen Philosophie kennen zu lernen und die Thangka-Malerei zu studieren. 1982 liess er sich im Familienstützpunkt Lugano nieder und plante von hier aus seine Reisen.
 
Nach einem Kulturaustausch «Mosca-Ticino» 1990 zwischen Schweizer und russischen Künstlern in Moskau, nahm Luca Gansser 1992 am Kulturaustauschs «Berlin-Zürich grenzenlos» auf Einladung des Kulturamtes Berlin-Hellersdorf teil, kurz nach der Wende und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Eine Schweizer Künstlergruppe von Schriftstellern, Bildenden Künstlern und Tänzern traf Berliner Künstler:innen und trat in einer Schweizer Kulturwoche in Ausstellungen und Lesungen auf, was Dialoge und Begegnungen in Ost-Berlin ermöglichte.
 
Ab Mitte der 90er Jahren verbrachte Luca mit seiner Lebenspartnerin Gabriela und seinen Eltern, dem Geologen und Forscher Augusto Gansser (1910-2012) und Linda Gansser-Biaggi, eine Zeitlang in Thailand und unternahm zusammen Expeditionen zu den Inselnomaden Moken und ihren Booten in der Andamanensee zwischen Burma und Thailand, um ihre Kultur und Lebenswelt zu kartographieren und zu dokumentieren, unterstützt vom französischen Centre national de la recherche scientifique.
 
2002 übersiedelte er nach Osttimor, das über zwanzig Jahre mit Indonesien im Kampf lag, bevor der Inselstaat selbständig wurde. Gansser errichtete dort für die jungen Timoresen die Kunstschule «Arte Moris», um sie und ihre Kultur zu unterstützen.

 

Aus dem vielseitigen Substrat entstand ein umfangreiches Werk, das Tagebücher, Zeichnungen, Ölmalerei, Mandalas, Skulpturen und Fundstücke umfasst. Oftmals sind es Traumwelten eines phantastischen mystischen Realismus, der auch politische Zeitbezüge eines nonkonformistischen Freibeuters der Kunst aufweist, die Kulturen der Welt durchpflügend.

Eine kosmopolitische Entdeckungsreise durch die Zeitgefilde.

 

 

Luca
In Memoriam 1945-2019
Konzept Luca Gansser und Silvia Cruciani,
Gabriella Gansser und Ursula Markus
Edition Stephan Witschi, Zürich 2022
Englisch, dt./ital. Übersetzungen, in Schuber
Einführungstext Ursula Eichenberger u.v.a.
384 S., div. Abb., Fotografien. CHF 78. € 70.
ISBN 978-3-906191-21-8
Erhältlich im Buchhandel und zum Vorzugspreis von
CHF 60 bei Ursula Markus u.markus@bluewin.ch

NACH OBEN

Reportage


Buchtipp


Kolumnen/
Diverses