FRONTPAGE

«Die Stadt Z.: Ich wäre gern ihr Komma und ihr Fragezeichen»

Von Isolde Schaad

Befindlichkeiten und Erfahrungen einer Stadtbewohnerin in vorrückendem Alter.

Manchmal beschleicht mich ein Gefühl, das noch keinen Namen hat. Es macht sich in der Magengegend bemerkbar, und ich fürchte, es bilde sich Grünspan auf jenem metaphysischen Organ, das die Romantik ‚das Gemüt’ genannt hat. Wie Schimmel auf dem Stück Parmesan, das ich doch erst vorgestern kaufte. Das Gemüt braucht Sauerstoff, dazu die Weite der Landschaft, während ich eingepfercht bin, im Stossverkehr des städtischen Trambetriebs.

Unter Youngsters und Schülerinnen, die mich übersehen. Mein buntlackiertes Gegenüber, oben und unten wippend, würde das Wort Gemüt kaum ihrem i-Pad entlocken, auf dem sie emsig tastet, am Ohr das Handy und jetzt, jetzt bin ich dran. Auslaufmodell sagt ihr Blick, denn ich habe mich bewegt und daher hat sie festgestellt, dass da noch jemand sitzt. Sie rafft die Hermestaschenkopie – das sehe ich – rasch an sich, denn sie könnte mit mir in Berührung kommen. Nun macht sie mit den Ohrstöppseln dicht, während ich angestrengt zum Fenster hinausschaue.

 

Ich verbiete mir den tantenhaften Gedanken auch ich war einmal jung  in dieser Stadt und habe ältere Leute übersehen. Im Grunde trifft er nicht zu, ich habe alte Leute oft angeschaut, und Mitleid verspürt, ich habe mir nicht vorstellen können, wie es ist, fünfzig zu sein, und ein Leben mit fünfzig zu ertragen. Ich bin siebenundsechzig Jahre alt, und halte mich an der Tatsache fest, dass die Reflexion des Generationenkonflikts im Wandel der Zeit einem überfüllten Tram nicht bekommt, und ich dankbar sein sollte, dass er nicht ausbricht. Im Hinblick auf die mich umschwirrenden Handygespräche von elf bis zwölf Nationen ist das ein Wunder. Doch, jetzt kann ich den Magenbelag benennen: ich bin gekränkt, in dieser Polyphonie der Globalisierung nicht vorzukommen, als Person. Menschsein allein genügt mir nicht.

 

Als Auslaufmodell brauche ich keine Tarnkappe, die ich mir früher wünschte, wenn ich keck aufgemacht, – Hot Pants waren gerade in Mode – abends im Tram unterwegs war, ein unbekanntes Abenteuer vor mir. Ich wollte sehen, aber nicht gesehen werden, doch, natürlich wollte ich. Jetzt erinnere ich mich dumpf an ein Gefühlschaos, das gleichermassen Protest und Verachtung, Schüchternheit und Geltungssucht enthielt, und damit nicht zurandekam, es besass noch keine ideologische Etikette. Ich betrachte erneut mein Gegenüber, war ich damals denn so weit entfernt von dieser jungen Frau? Der Widerspruch der Jugend, mit seiner aufmüpfigen Impertinenz, dem Griff nach den Sternen, der bis zur Anarchie ausschlagen kann: ist er nicht die soziale Konstante? Sagt er mir nicht, dass es weitergeht mit dem Menschlich-Allzumenschlichen, seiner Suche, seinem Trial and Error?

 

Man möchte zur Kenntnis genommen werden, von der Stadt seiner Wahl.
Sie registriert mich demografisch und statistisch seit über vierzig Jahren. Aber sonst? Ich wäre gern ihr Komma und ihr Fragezeichen, eine Art von Denkanstoss, als eine – um das hochgemut zu sagen – Kulturschaffende ohne Portefeuille. Doch bin ich in Tat und Wahrheit ein Muster ohne Wert. Ich mag diese vergangene Wendung, sie amüsiert mich, weil sie mich wörtlich enthält, ich bin ja eine Schachtel mit Warenproben zur Ansicht, und bald werde ich eine alte Schachtel sein, die ihr Schrifttum gratis anbietet. Mein Beruf ist das Schreiben, ich nenne ihn lieber mein Métier, das hat etwas Lockeres und gleichzeitig Zupackendes, vor allem wird das Métier nicht sofort nach Verdienst und Mindesteinkommen gefragt.

 

Die Stadt, in die ich 1967 zog, um zu studieren, nennt sich nun Down Town Switzerland, und schon morgen möchte sie im Weltmassstab „worldlike“ repräsentieren. Trotzdem schätze ich sie heute mehr als damals, im ausgehenden Mief der Kleinstadtidylle, mit der Teppichstange im Hinterhof des Wohnheims, das mir mein Vater für ein Semester berappte.
Down Town Switzerland  ist ein sprudelndes Soziotop, und ich lausche seinen exotischen Lauten, seinem Wortschwall, den Kaskaden von Aufregungen; ich bin fasziniert. Sogar von diesem zusammengepappten farbigen Gros im Tram zur Stosszeit, aus dem hochhausartig das Bankenbusiness im schwarzen Anzug ragt, während untenherum eine alte Zeit mit patriarchalen Allüren herrscht. Ein Panoptikum der (ausser)europäischen Geschichte, in das ich unversehens gerate, um alles andere mit ihm zu teilen, als jene gesellschaft-spolitisch relevante Öffentlichkeit, die wir einst beschworen. Es handelt sich vielmehr um eine in den ÖV gekippte multikulturelle Intimität, die mich als Ansässige neutralisiert. Ich horche in das Geläute von Fremdsprachlichkeit hinein, ohne Bedürfnis, es zu verstehen. Mein Ich ist in die dritte Person gerutscht.

 

Wenn ich die dunkeltonige Eleganz betrachte, die in der City zirkuliert, und je jünger, desto intensiver die kinoreife Makellosigkeit ansteuert, so konstatiere ich: Zürichs Bevölkerung ist schöner geworden. Sogar dort, wo die Stadt sich als finsterer Trésor abschottet und exklusiv für milliardenschwere Touristen Einkaufspassagen unterhält, im Bankenrevier um den Paradeplatz, hat die Schatztruhe des Kapitals einen weltläufigen Schwung erhalten. Überall sind Boulevardcafés entstanden und summen schon im Frühling.
Dort steige ich aus und schlendere zum Kiosk im ausladend renovierten Pavillon der Tramstation. Die Vision von mir als einer künftigen Stadtstreicherin, die ein, zwei Zeitungen mitlaufen lässt, wenn niemand guckt, ist gar nicht fern. Besser als der tickende Kontrollblick irgendeines Care-Teams, das meine Freiheit und Selbstbestimmung beschneidet. Diese zwei, wie soll ich sagen, Leitmotive meines Lebens, genossen bis vor kurzem absolute Präferenz. Nun zeigen sie mir die kalte Schulter und des öftern eine Faust.
Ein Lächeln, egal von wem, würde jetzt genügen, um meine urbane Existenz zu bestätigen. Sie kommt mir allmählich abhanden und doch staune ich über den stillen Genuss, den mir diese Erkenntnis gelegentlich verschafft. Wenn ich offen dafür bin.

Leben und leben lassen, das hat grosstädtisches Format. Und entzieht sich jedem noch so angestrengten Slogan des Stadtmarketing, zum Beispiel „Wir leben Zürich“. Der setzt mich ins Passiv, und prophezeit mir und anderen meines Jahrgangs die unentrinnbare Zukunft, so kommt es mir vor, und seither hat der Ausdruck Urnengang – als staatsbürgerliche Pflichterfüllerin lasse ich keinen aus – einen Hintergedanken, oder ist es bereits ein schaler Vorgeschmack? Ich ziehe es nun vor, per Post abzustimmen.

 

Bürgerinnennähe?  Ein Fremdwort für die autonome Intellektuelle, für die Verbürgerlichung einst ein Schimpfwort war. Das hat an Bedeutung verloren, und an Sinn gewonnen. Für eine, die vor der 68er-Rebellion zu studieren begann. Wer damals revoltierte, und in dieser Stadt jung war, wollte diese Jugend möglichst lang erhalten, und schaffte das bis in den Zenith des Lebens, so dass mit vierzig Jahren nichts weniger erwünscht war, als im Bürgertum Einsitz zu nehmen. Noch mit fünfzig wäre man lieber eine unentwegt Politische gewesen, und als solche wahrgenommen, statt
eine sitzengelassene Genossin, ertappt in der unerwünschten Rolle der alleinerziehenden Mutter. Die Verunsicherung fand statt, die Unterwanderung kam aus einer anderen Himmelsrichtung. Und jetzt ist es oft die blanke Unsicherheit, die mich befällt, wenn ich mit dem Rucksack und zwei Tragtaschen vollbepackt aufs Fahrrad steige. Auf einmal verlieren Selbstverständlichkeiten die Konturen.

Diese Stadt ist ja im Ranking um die höchste Lebensqualität meistens obenauf, um das so salopp zu sagen wie es Down Town Switzerland  mag.
Das heisst, sie hat für jede Situation, für jedes Problem eine Beratungsstelle, und ein empfehlenswertes Kursangebot, sie unterhält zu diesem Zweck eine weitausholende soziokulturelle Infrastruktur mit reichhaltiger Kompetenz. Der diskriminierte schwarze Mann kann sich an die Ombudsstelle wenden, die importierte strapazierte Anschafferin weist man via Frauenzentrum ans FiZ, die gratis erziehende Mutter und der verdienend erziehende Vater ans Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau, der pflegebedürftigen Oma rät man zur Spitex ihres Quartiers, der Behinderte wende sich bitte an die für ihn vorzüglich ausgebaute Fachstelle, und wohin wende ich mich? Ist zunehmende Unsichtbarkeit eine Diskriminierung, und wenn ja, wo wäre sie einzuklagen? Gibt es eine Versicherung für ausbrechende Ängstlichkeit, und eine für Panikattacken im Lift? Älterwerden ist keine Krankheit, sondern eine Befindlichkeit. Meine Grossväter kannten das Alter als Status, dem man mit Respekt begegnete. Von Status ist längst keine Rede mehr, sondern von Prävention.

 

Ich bin offenbar ihr Fall. Das Wort selbst duckt sich unter der Fülle von exquisit gestalteten Broschüren. Was mir auffällt, ist die zunehmende Einwegkommunikation, je mehr die Behörden und Ämter das persönliche Gespräch einsparen, desto mehr häuft sich die Flut von Beratungsliteratur in meinem Briefkasten. Sie meint aber nicht mich, sondern mein Potential, und das muss trainiert werden, als Hochleistungswandererin, Kuraufenthalterin, Wellnesskandidatin, Gesundheitssportlerin jeder Art, mit der Adresse Residenzanwärterin, das wäre dann eine Heiminsassin der vornehmen Art. Das Angebot, mich sogar als Bergsteigerin zu coachen, macht deutlich, was eigentlich gemeint ist. Ich soll gesund sterben, um die Kostenexplosion zu kompensieren, ausgerechnet ich, die zahlt und zahlt, und noch nie ein Spitalbett beansprucht hat.

 

Ich bin die Klientin meines Potentials, man bietet mir das Rüstzeug zum Vorzugspreis, offeriert Walkingsticks besonders günstig, und komfortable Nackenstützen, und sollte ich nicht reagieren, werde ich mit Bons versorgt, um mein Anforderungsprofil zu testen. Wo ich hinkomme, bin ich zuerst und vor allem Konsumentin, sogar wenn ich darniederliege, als Patientin. Die deklarierte soziale Kompetenz hat den eleganten Euphemismus Klientin geprägt, um zu kaschieren, dass ich in erster Linie ein Wirtschaftsfaktor bin, und der sollte sich auch als Notfall noch rechnen. Als Kostenfaktor werde ich mich sogar selbst überleben, das ist immerhin eine Aussicht in einem markthörigen System.

Weg mit dem angestauten Kosten-Nutzen-Denken, das mich nun öfter erreicht. Das Szenario heisst Gegenwart. Ich öffne das Fenster und atme tief durch. Noch bin ich eine berufstätige Städterin. Wäre gern eine Citoyenne, und als solche Nutzerin eines urbanen Netzes, das aus Fleisch und Blut ist und Kaffee mit Schlag anbietet, wie ungesund, mindestens aber einen Espresso mit einem Glas Wasser sollte ich erhalten.
Ich spreche von einem Ort, einem Lokal, in dem die Citoyenne Stammgast wäre, auch noch nach Stunden hinter der Zeitung, denn sie liest sie immer wieder von vorn. Sie ist nämlich auch hochbetagt willkommen. Ich spreche von jenem grosszügigen, ausserordentlich preisgünstigen, rollstuhlgängigen und dabei qualitätvoll ausgestatteten City Kaffeehaus, das wir immer noch nicht haben. Die Generation, die jetzt am Drücker ist und aus lauter Ich-Projekten besteht, würde neben mir Platz nehmen, bitte gern. Ein freundliches Nicken würde genügen. Ich weiss ja, das Ich-Projekt ist absorbiert, es muss unbedingt telefonieren und soll den Labtop nach Bedarf bedienen können. Angenehm wärs, käme hie und da ein Gespräch zustande, absichtslos, ohne Programm. Und wenn daraus eventuell ein interdisziplinäres Ich- und- Du- Projekt entstünde, warum nicht?
Zwanglose, uneigennützige Kollegialität ist eine Rarität unter Freiberuflichen, im vorrückenden AHV-Alter wäre sie dann ein Geschenk. Das Stadtcafé, das wir immer noch nicht haben, könnte meine Zwischenstation sein, eine urbane Oase auf dem harten Pflaster des Nichtmehr ins Nochnicht.

 

Ich stamme aus einer Epoche, die das Wir geprobt hat, das politische und gesellschaftliche Wir. Wenn es in Down Town Switzerland noch ein Wir gibt, dann sitzt das an einem Quartierstammtisch und hat ein Vereins-Wir. Davon mache ich keinen Gebrauch mehr. Ich habe lernen müssen, dass man von einem Kollektiv keine Gemeinschaft erwarten kann. Denn allzuoft entwickelt es bloss Einigkeit darin, dagegen zu sein. Das hat heute einen Kern von Ewiggestrigkeit, im Brustton der Selbstbehauptung, die Selbstüberschätzung ist, von welcher parteipolitischen Flanke sie auch kommen mag. Es ist ein Wir der Erhaltung um jeden Preis, ein Wir, das grundsätzlich keine Baustelle wünscht, das ist kein Wir für mich, selbst wenn ich gern an der Alternative und ihren Bioprodukten nippe.

Ist man so alt, wie man sich fühlt? Das hängt von der Umgebung ab, die sagt einem unverblümt, wie alt man sei. Alt aussehen, wenn der Mund einen anderen Jahrgang hat als die Kleidung. Oberlippen, Hals und Hände sind die Verräter. Und so schaue ich versonnen auf sämtliche Altersflecken, die mir begegnen, die meinen und die anderen. Sie tun sich hervor wie die Spatzen auf dem Vorplatz, die ich nun genauer betrachte, um zu bemerken wie hübsch ihr Gefieder ist, und wie feingliedrig die hüpfenden Beinchen. Neuerdings sehe ich den Flieder und Schneeball vor unserm Haus, als wären sie frisch gepflanzt worden.

Dabei sind die Sträucher wesentlich älter als unsere 1977 gegründete Hausgenossenschaft. Die Wahrnehmung spitzt sich zu, schiesst sich auf Einzelheiten ein, das Gesichtsfeld verengt und vertieft sich. Vielleicht ist das eine Gnade, die mich entbindet vom grossen Drumherum und seiner Wahrnehmung, die mich wesentlich mehr beansprucht hat, oft auch strapaziert, da sie sich kaum von meinem kämpferischen Einsatz beeindrucken liess. Und ich balanciere um mein Gleichgewicht, das Physische und das Gesellschaftliche. Die ontologische Absehbarkeit stellt es täglich auf die Probe.
Es gibt kein Recht auf Nachfrage, so wenig wie es ein Recht auf Sichtbarkeit gibt, oder gar ein Recht auf Erfolg. Seit sich die Verlustanzeigen des Lebens häufen, habe ich die Vorsicht zu meinem Vormund erklärt, freilich mit be-schränkter Haftung. Das ist keine Frage des Jahrgangs, stelle ich fest, denn das Bewusstsein hat kein Alter. Es kennt nur den Zustand, und innerhalb von schwankende Befindlichkeiten auch Arten von Glück.

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