FRONTPAGE

«München im Blütenrausch»

Von Ingrid Schindler

 

Die Bayernmetropole feiert die Blume: «Flower Power» findet vom 3. Februar bis 7. Oktober 2023 spartenübergreifend und stadtweit an zahlreichen Orten statt. Den Kern des Festivals bildet die Ausstellung «Flowers forever. Blumen in Kunst und Kultur» in der Kunsthalle München.

 

Big Business
Tulpen als Kryptowährung der Niederlande des 17. Jahrhunderts: Die britische Künstlerin Anna Ridler zieht in der Videoinstallation «Mosaic Virus», 2019, Parallelen zwischen der Tulpomanie und dem Bitcoin-Run in unserer Zeit. Die Blase platze 1637 und ruinierte Spekulanten, die in ihrer Geldgier auf virusinfizierte, ausgefallene Blüten im Wert von Immobilien setzten. So wenig wie Blockchains besassen diese einen realen Wert. Wie beissend der Spott zeitgenössischer Künstler war, bringen die Gemälde «Floras Narrenwagen» von Hendrick Gerritsz Pot, um 1637, und die «Satire auf die Tulpenmanie» von Jan Brueghel der Jüngere, um 1640, zum Ausdruck. Brueghel lässt Affen statt Menschen auftreten. Gerissene Händleraffen stellen verblendeten Anlegeraffen die schönsten Blüten(gewinne) in Aussicht, pissen aber eigentlich auf die Tulpenzwiebeln und leben vom Geld der Spekulanten in Saus und Braus. Auch kostbare Möbel und Designobjekte erzählen die Geschichte vom Tulpenwahn. Welche Blüten das Massengeschäft mit der Tulpe in unserer Zeit treibt, zeigt eine Fotografie von 2015 von Andreas Gursky: ein riesiges Feld mit Millionen von Tulpen, die nur noch als Farbbänder wahrgenommen werden.
Der ökonomische Aspekt ist eines von vielen spannenden Kapiteln, die die Ausstellung «Flowers forever. Blumen in Kunst und Kultur» in der Kunsthalle München der Hypo-Kulturstiftung bis 27.8.2023 aufschlägt. Sie bietet einen Parcours durch die Rolle der Blume in Kunst und Design, in Naturwissenschaft, Mythologie, Religion, Literatur sowie in Politik, Wirtschaft und Ökologie. Auch, wenn man es kaum glauben mag, ist sie «die erste Ausstellung, die sich der Kunst- und Kulturgeschichte der Blume vom Altertum bis heute widmet», wie Dr. Roger Diederen, Direktor der Kunsthalle München, betont.

 

 

Bürgerbeteiligung
Die Publikumsmagneten sind raumgreifende Installationen, die die Kunsthalle eigens für die Ausstellung in Auftrag gegeben hat. Für «Calyx», Blütenkelch, hat die britische Künstlerin Rebecca Louise Law über 100’000 Blüten in einen hängenden Trockenblumenwald verwandelt, durch den die Museumsbesucher spazieren. Diederen erzählt, wie das Werk entstand: «Ich habe Rebecca gefragt, was es kosten würde, eine Trockenblumen-Installation für uns anzufertigen. Wenn sie die Blumen selbst besorgt hätte, wäre das viel zu teuer geworden. Also haben wir 2022 die MünchnerInnen aufgerufen, für uns im Sommer Blumen zu sammeln und zu trocknen. Rebecca war von der Ernte überwältigt, über 200’000 Blüten wurden abgegeben. Sie sagte, nie hätte sie einen solchen Enthusiasmus wie in München erlebt.» Gemeinsam mit Hunderten von Freiwilligen hat Law die Blumen in einem aufgelassenen Schwimmbad eines Sportclubs der HypoVereinsbank mit Draht zu Girlanden aufgezogen. Danach kamen sie zwei Wochen lang in Schiffcontainern ins konservatorische «Gefrierfach», um sie von Insektenbefall zu befreien.
Auch bei der interaktiven, generativen Installation «Extra-Natural», 2023, von Miguel Chevalier zücken die Besucher ihr Handy. Auf eine Art sind die BesucherInnen am Werk beteiligt, denn Algorithmen kreieren mit der Hilfe der Bewegungen der Betrachter im Raum einen überdimensionalen, imaginären, digitalen Blumengarten ständig neu. Ein virtuelles Werden und Vergehen, das auf die symbiotische Beziehung von Mensch und Natur verweist. Die beeindruckenden KI-Blüten des Pioniers der digitalen Kunst bilden das Titelsujet von «Flowers forever».

 

 

Hinter jedem Werk steht eine Geschichte
Das Publikum nimmt die Ausstellung begeistert auf. «Wenn das so weiter geht, sprengt sie alle Dimensionen», meint Diederen, der die Schau gemeinsam mit Franziska Stöhr «niederschwellig für alle» kuratiert hat. Eine chronologische Erzählung der Geschichte der Blumen kam nicht in Frage, «nichts wäre langweiliger als das».
Die rund 170 Exponate wurden nach kulturhistorischer und gesellschaftspolitischer Relevanz ausgewählt. Die blosse ästhetische Wiedergabe von Blumen reichte nicht, auch wenn sie noch so opulente Bouquets ergeben. Es sei denn, sie setzen sich aus Hunderten von Löffeln, Gabeln, Nägeln und Silberperlen zusammen wie Ann Carringtons «Delft Snowball» oder «Madame Moulliere», beide 2021. Dank Upcycling verweisen die floralen Prunkpokale, die sich auf metallene Objekte in Stillleben des 16./17. Jahrhunderts beziehen, auf das Thema Nachhaltigkeit.
Alle Werke erzählen Geschichten, viele aus weiblicher Sicht. Künstlerinnen sind gut vertreten, immerhin waren Blumen in der Vergangenheit eines der wenigen Sujets, mit denen sie sich befassen durften. Einige Arbeiten eröffnen den postkolonialen Diskurs, wie die Digitaldruckserie «Of Palimpsests and Erasure”, 2021. Patricia Kaersenhout lässt hinter Pflanzendarstellungen aus Maria Sybilla Merians «Metamorphosis insectorum Surinamensium» von 1705 surinamesische und afrikanische Sklavinnen durchscheinen, ohne deren Hilfe die Naturforscherin und Künstlerin ihre Arbeit nicht hätte durchführen können. Oder die Installation «The Marias», 2020, von Kapwani Kiwanga. Sie thematisiert den Missbrauch von Sklavinnen durch Kolonialherren, indem sie in einem grellgelb gestrichenen Raum Blüten des unter Sklavinnen gebräuchlichen Verhütungs- und Abtreibungsmittel Pfauenstrauchs aufs Podest hebt.
Tracey Bush legen mit ihren Blumencollagen von 2022 den Finger auf schwindendes Pflanzenwissen. Wir kennen heute unvergleichlich mehr Markennamen und Logos als einheimische Pflanzen. Ausgehend von Blumen, die die meisten identifizieren können, hat die Künstlerin bunte Collagen von Löwenzahn, Hundsrose, Margerite u.a. aus Verpackungsmaterial kreiert, das sie auf Londons Strassen aufgesammelt hat. Die Arbeiten erinnern an Juli Gudehus’ Blütencollagen aus recycelten Plastikgegenständen, die wiederum im Botanischen Garten zu sehen sind.

 

 

Von «Flowers forever» zu Flower Power in der Stadt
«Erst als wir die Ausstellung konzipierten, ist die Idee eines stadtübergreifenden Blumen-Festivals entstanden», erzählt Roger Diederen. «Wir dachten, wir könnten etwas Grösseres daraus machen, wie vor fünf Jahren beim Faustfestival, dem ersten stadtweiten Event in München.» Die Kunsthalle lud daraufhin «ganz Kultur-München» ein, die Resonanz war gigantisch. Die Kunsthalle, der Gasteig, Europas grösstes Kulturzentrum, der Botanische Garten München-Nymphenburg und das Naturkundemuseum Bayern (Biotopia Lab) sind Initiatoren und Impulsgeber des «buntesten Festival, das München seit langem gesehen hat», so Gasteig-Chef Max Wagner.
Der Gasteig HP8 (kurz für Gasteig, Hans-Preissinger-Str. 8) ist offiziell das Festivalzentrum. Die Spielplätze des Festivals sind draussen, drinnen und digital. Über 300 VeranstalterInnen nehmen mittlerweile daran teil. Mitmachen kann jeder, auch jetzt noch, der kleine Verein, die private Initiative, der Park oder Gastronom genauso wie die grosse Institution und renommierte Kultureinrichtung. Immer mehr Events spriessen aus dem Boden, deshalb gibt es kein gedrucktes, sondern ein fortlaufend aktualisiertes Online-Festivalprogramm.

 

 

Lustspiele auf der Bühne, Lyrik unter Bäumen
Bis zum 7. Oktober feiert München die Natur in der Stadt. Die Ausstellung in der Kunsthalle bietet einen hervorragenden Einstieg in den Blütenrausch. Auch das Brandhorst Museum, eines der renommiertesten Häuser für zeitgenössische Kunst und bekannt für die grösste Warhol-Sammlung ausserhalb der USA, erweist der Blume die Ehre: unter dem Titel «La vie en rose» werden Meisterwerke aus den Münchner Pinakotheken Cy Twombly’s Rosenzyklus gegenübergestellt. Gleichzeitig widmet es der New Yorker Künstlerin Nicole Eisenman die grösste Retrospektive, die bisher in Europa gezeigt wurde. Die Darstellung queerer Sexualität und Körperlandschaften à la Eisenman kann man auch auf der Bühne erleben: In den Kammerspielen steht das Stück «Joy 2022» von Michiel Vandevelde und Team auf dem Spielplan, im Rahmen des Flower Power Festivals in neun Tableaus inszeniert.
Andere Seiten der Blumen zieht zum Beispiel das BIOTOPIA-Lab auf, wo man sich vom Duft ausgestorbener Pflanzen betören lassen oder wie ein Schmetterling durchs Biotop fliegen kann. An der Isar kann man sich beim Wildkräutersammeln schlaumachen, im Botanischen Garten die Schönheit echter Blüten, Klangblumen und Lyrik unter Bäumen geniessen, im Gasteig zu Flower-Power-Musik tanzen oder in der Trattoria Giorgia in poppigem Flower-Power-Ambiente speisen. Angebote gibt es für jeden Geschmack.

 

#flowerpowermuc
www.flowerpowermuc.de
www.kunsthalle-muc.de

 

 

München-Tipp
Kulinarische Blüten abseits des Mainstreams:
Viertelliebe-Führung im Schlachthof

 

Wo München authentisch nach München schmeckt, vermittelt eine «Viertelliebe»-Tour mit Einheimischen durchs Schlachthof-Areal. Das sogenannte Glasscherbenviertel rund um Schlachthof, Grossmarkt und Dreimühlenstrasse befindet sich seit der Auslagerung des Grossteils der Schlachtungen und der Eröffnung des neuen Volkstheaters und der Isarphilharmonie im Wandel. Glasscherben deshalb, weil die Arbeiter ordentlich zechten, wenn sie die Lohntüte bekamen und die Bierflaschen halt oft im Rinnstein landeten. Die Arbeiterbastion mausert sich mittlerweile zum Wohn- und Ausgehquartier.
Immer noch gibt es gutes Bier im Quartier und original Münchner «Boaz’n» bzw. Bierstüberl, wo die Halbe keine drei Euro kostet. Zugleich schiessen kultige Craft-Bier-Kneipen wie Pilze aus dem Boden. Nun stehen Münchner, Türken, Italiener oder Griechen am Tresen des Bierschuppens, Valentin Stüberls, Zenetti Pils oder der Geierwally nicht mehr allein unter sich, sondern hippe Neuzuzüger mischen sich unter sie. Neben dem alteingesessenen Yol, der gefühlt ersten türkischen Taverne der Stadt, und dem ebenfalls ewig existierenden Eiscafé Bella Italia haben sich Zeitgeist-Locations angesiedelt, wie das 3Mills Cycling & Coffee, das Luxusräder, Fotografie und Kaffeekultur vereint, das Hygge, wo persische Kost auf Kunst trifft, das trendig-israelische Theaterlokal Schmock oder das soziale Ausbildungslokal Roecklplatz, in dem Vegan-Vegetarisches hoch im Kurs steht. Und das im Schlachthofviertel, wo Metzger Bauch König ist!
Weisswurstkönig, um genau zu sein. Bei Bauch steht man schon früh morgens an, denn dann gibt’s Rabatt. Auch in der Gaststätte in der Grossmarkthalle gilt, der frühe Vogel fängt den Wurm. Am Montag ist dort Büfflamott-Tag – so heisst auf Bayerisch seit Napoleon Boeuf-à-la-mode – und wer erst nach 11 Uhr kommt, hat das Nachsehen, denn dann ist’s meistens ausverkauft.

 

Der Arbeitstag beginnt im Viertel mit der höchsten Metzgerdichte der Stadt traditionell in den frühesten Morgenstunden, während für Szenegänger die Nacht hier noch lange nicht zu Ende ist. Zwischen der Waschstrasse für Tiertransporter und dem ehemaligen städtischen Brausen- und Wannenbad, wo sich Tausende von Schlachthofarbeitern und Anwohner ohne eigenes Bad täglich den Dreck vom Leib schrubbten, wird gefeiert. Hier erstreckt sich der Kultur- und Atelierpark Bahnwärter Thiel, die ehemals längste Graffitimeile Europas, an stillgelegten Gleisen. Vom Flohmarkt, Tanzkurs, Theaterstück bis zur Clubnacht finden täglich Events in und vor ausrangierten Trams, Gondeln, Kutschen, U-Bahn-Wägen und Schiffscontainern statt. Urban-Gardening gehört auch dazu, die Subkultur treibt mitunter bizarre Blüten. Hoch auf den Gleisen thront der Ex-Ammersee-Dampfer Alte Utting über dem Gelände, heute Café, Bar, Tanz- und Konzertlokal. Das gegenüberliegende Brausebad nutzen Münchner Bands zum Proben. Über allem erhebt sich der Neubau des Volkstheaters, das hier den passendsten aller Standorte gefunden hat.
Die «Viertelliebe»-Idee wurde während der Pandemie geboren, wie Karin Baedeker von München Tourismus erläutert. «Unser Radius verkleinerte sich durch Lockdown und Homeoffice extrem, die Welt schrumpfte aufs eigene Viertel zusammen. Auch wir von München Tourismus tauchten nun viel tiefer in die Menschen und Besonderheiten unserer Wohnquartiere ein. Aus unseren begeisterten Erzählungen ist die Viertelliebe-Kampagne entstanden.» Inzwischen werden die zweistündigen Führungen durch Alt-Schwabing, Giesing, Nymphenburg-Neuhausen, das südliche Bahnhofsviertel, Kunstareal und Olympische Dorf von speziell ausgebildeten, offiziellen, einheimischen Guides durchgeführt. Die Münchner selbst nehmen das Angebot genauso gern in Anspruch wie Gäste aus dem In- und Ausland, um Blüten im Verborgenen zu entdecken.
Viertelliebe-Führungen: 18 Euro/ pro Person, individuell 145 Euro jeweils samstags 15 Uhr
www.einfach-muenchen.de

 

Bildlegenden: 1. Andy Warhol, «Flower Power» 1970, Kunsthalle München  2. Juli Gudehus, «Die Natur der Sache», Botanischer Garten München-Nymphenburg   3. Miguel Chevalier, «Extra-Natural», 2018  4.  Georgia O’Keeffe, «Series 1, <no. 8, 1919, Kunsthalle München   5.  Ann Carrington, Delft Snowball, 2021, Kunsthalle München  6. Kehinde Wiley, Portrait of a Florentine Nobelman». 7. Patricia Kaersenhout, «Of Palimpsests and Erasure», 2021, Kunsthalle München  8. Lawrence Alma-Tadema, «Die Rosen des Heliogabalus», 1888, Kunsthalle München  9. Rebecca Louise Law, «Community», 2018  Installationsansicht  aus Toledo Museum of Arts, Ohio, analog „Calyx“-Installation,  Kunsthalle München 10. unbekannt

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