FRONTPAGE

«So wild, so schön und so verwegen»

Von Ingrid Schindler

 

Korsika klingt ein wenig nach Räuberpistole und das ist es auch auf seine Art. Zum Glück für die wunderschöne Natur, ob in der Macchia an der Küste oder in den Bergen im Hinterland. Die besten Korsika-Tipps!

 

Schöner kann das Paradies nicht sein! Traumhafte Sandstrände in Türkis zwischen wild zerklüfteten Klippen, bizarr abgeschliffenen Felsbrocken und jahrhundertealten Wachtürmen aus Genueser Zeit. Dazwischen Macchia, Macchia und nochmals Macchia und – sparsam hingestreut – verfallene Schäferhütten, Hotels de Charme und Campingplätze in 5-Sterne-Lage.
Korsikas Küsten blieben vom Massentourismus verschont. Geisterhafte Bettenburgen, Betonstrände, aber auch Industriegebiete: Fehlanzeige. Die Korsen wissen, wie man fremde Investoren und ihre Baugesuche zum Teufel jagt. Hier findet man das, worum andere Feriendestinationen das 20. Departement Frankreichs beneiden: intakte Natur.

Mit 8‘720 km² Fläche und 313‘000 Einwohnern (INSEE, Institut national de la statistique et des études économiques, 2011) ist das in Süd und Nord geteilte Departement (2A auf dem Autokennzeichen steht für Ajaccio/ Corse du Sud, 2B für Bastia/ Corse du Nord) die am dünnsten besiedelte Region Frankreichs. Zum Vergleich: Mallorca ist 3‘620 km² gross, hat 869‘000 Einwohner und gar einige Bettenburgen mehr.

 

 

La Corse aux Corses!
„Ohne die Separatisten sähe die Küste anders aus“, ist Jean-Francois Bernardini, Bandleader der I Muvrini (deutsch: Mufflons), überzeugt. Und ohne das Loi Littoral, das das Bauen an der Küste bis auf 100 m untersagt. „Aber“, betont der Kopf der Mufflonbande, „Meer und Strände, das ist ja nicht das echte Korsika!“ Die Insel besteht zu 86 Prozent aus Bergland. Sie ist ein Gebirge im Mittelmeer. Die Korsen sind ein stolzes Bergvolk. Ein eigenwilliges und kämpferisches Volk von Hirten und Bauern, das seine Freiheit bis in die jüngste Zeit nicht nur mit dem Mund und der Heugabel verteidigt hat.

Auch die Muvrini waren nicht immer so friedliebend, wie Wildschafe an sich sind. „Früher waren wir radikaler“, gibt Bernardini zu. Heute hätten sie sich vor allem den Erhalt der korsischen Sprache zur Aufgabe gemacht. Denn Sprache ist Identität und eigene Kultur. Nur noch 20 % der Jungen würden in der Schule freiwillig Korsisch, eine Mixtur aus Latein, Italienisch und Französisch, lernen.
I Murvini sind die Kultband Korsikas und feiern auch auf dem Festland, vor allem in Deutschland, Belgien und der Westschweiz, grosse Erfolge. Ihre Lieder stehen in der Tradition der ergreifenden, korsischen Männergesänge und überziehen mit Pathos und Pop die archaisch-puristische Polyphonie. Die Texte, teils in Französisch, teils in Korsisch verfasst, handeln von Freiheit, Liebe und Leidenschaft für die korsische Kultur und Natur.
Genau genommen ist es mit der Eigenständigkeit der Korsen nicht weit her: Schon vor 8‘000 Jahren besiedelt, unterstand die „Ile de la Beauté“ im Lauf der Zeit vielen Herren – den Römern, Genuesen, Franzosen, Pisa und dem Papst – und war gerade einmal 14 Jahre von 1755 bis 1769 unter ihrem Nationalhelden Pasquale Paoli autonom, bevor die Genueser die Insel an Frankreich verkauften. Just in dem Jahr, als Korsika den Franzosen einen künftigen Kaiser spendierte: Napoleon Bonaparte erblickte 1769 in Ajaccio das Licht der Welt.

 

 

Stoff für Romane und Romantiker
Im Herzen aber sind die Korsen immer autonom geblieben und verliessen sich bis ins 20. Jahrhundert hinein lieber auf Selbstjustiz als auf Napoleons Code Civil. Der Pariser Schriftsteller Prosper Mérimée, der 1839 als Inspektor für Denkmalpflege die Insel bereiste, war derart von der korsischen Vendetta beeindruckt, namentlich der Rachsucht einer gewissen Colomba Carabelli, die ihren gemässigten Bruder unerbittlich zum Ehrenmord trieb, dass er deren Geschichte literarisch verewigte. Die 1840 erschienene Novelle „Colomba“ spielt mit allen Elementen einer Räuberpistole und geriet zum Meisterwerk der romantischen Literatur. Sie verfestigte den Ruf Korsikas als Schauplatz schauriger Abenteuer und verwegener, blutrünstiger Gestalten, die sich im undurchdringlichen Gestrüpp der Macchiawälder vor den Augen des Gesetzes versteckten.

In der Tat bietet die Macchia mit ihren Höhlen und Bergerien Banditen jeder Art, ob ehrenhaft oder nicht, bestens Unterschlupf und Nahrung an. Sie liefert Schnepfen, Rebhühner, Wachteln, Wildenten, Hasen, Wildschweine, Schafe, Wildfrüchte – und hocharomatische Kräuter wie Rosmarin, Lavendel, Myrte, Lorbeer, wilden Fenchel oder Immortelle gleich dazu. Verfallene Hirtenhütten in der einsamen Wildnis der Macchia sind heute als Feriendomizile sehr begehrt.

Paul Canarelli hat das Potential der Bergerien früh erkannt. Als ihm sein Grossvater 1993 Agrarland, Macchia und einen Streifen Strand im Südwesten Korsikas vererbte, begann der junge Mann die eingefallenen Schäferhütten und alten Steinhäuser aus dem 17. Jahrhundert auf dem Terrain mit einheimischen Baumaterialien wieder aufzubauen. Eine Genehmigung für Neubauten hatte er nicht. Die primitiven Hütten bestanden meist nur aus einem Raum, in dem die Schäfer kochten, schliefen, kochten und die Schaf- und Ziegenmilch verkästen. Canarelli legte Gärten mit Pool und Outdoorküchen um die Hütten an und stattete sie mit hochwertigen Landhausmöbeln und Accessoires als Ferienhäuser aus. Von keinem Haus sieht man ein anderes, dafür reicht der Blick weit über Berge, Küste und das Meer. Heute umfasst Murtoli (Myrte), wie das Landgut mittlerweile heisst, etwa 2500 Hektar Fläche, acht Kilometer Sandstrand, 18 Hirtenhütten und Steinhäuser, einen Reitstall, ein Höhlen- und ein Strandrestaurant unter Oliven- und Erdbeerbäumen am Rand der Macchia und anderes mehr. Aus dem wertlosen Stück Land im Tal des Ortolo ist die grösste Jagddomaine Korsikas und eines der schönsten Hideaways Europas geworden. Dessen wahrer Luxus ist die einsame, intakte Natur, in der die Gäste Wildschweinen begegnen, statt Papparazzi, oder diese aufs Korn nehmen.

 

 

Obelix lässt grüssen
La Chasse aux Sangliers ist die Königsdisziplin der Jagd auf Korsika. „Jagen lernt jeder, es gehört von Kindesbeinen an dazu“, sagt Jean-Paul Padovani. Das Revier des Naturguides und Outdoor-Veranstalters befindet sich am Col de Vizzavona, an der Schnittstelle von Nord- und Südkorsika sowie des nördlichen und südlichen Teils des Fernwanderwegs GR20. Jagdschein oder nicht, das spielte lange keine Rolle. Das Wildschwein ist tief in der korsischen Küche verankert. Erst mit der lückenlosen Nachverfolgbarkeit des Fleisches habe man das Wildern in den Griff bekommen, meint der naturverbundene Jäger. Restaurants müssten heute nachweisen, woher das Wildschwein stamme.
Die kleinen schwarzen Borstentiere laufen vielerorts im Lande frei herum. Selbstverständlich greift in „Asterix auf Korsika“ Obelix als Sachverständiger in Wildschwein-Fragen diesen Umstand auf: „Sind das wilde Hausschweine?“ fragt er. „Nein! Das sind domestizierte Wildschweine“ antwortet ihm ein Korse. So genau weiss hier niemand, ob es sich um das eine oder um das andere handelt, denn die Tiere paaren sich ja schliesslich ungefragt.
Die halbwilden Hausschweine kennen jedoch ihren Bauern genau, meint Padovani. „Sie laufen sofort herbei, wenn sie sein Auto oder seine Hupe hören. Denn das bedeutet Leckerbissen.“ In den letzten Monaten vor dem Schlachten füttert man ihnen Kastanien, Mais oder Eicheln zu, die sie sich Begeisterung einverleiben, suchen sie sich doch sonst ihr Fressen selbst. „So gewöhnt der Bauer die Tiere ans Auto und kann sie leicht einfangen, wenn es dann ans Schlachten geht.“ Und wenn man das Schwein eines anderen Bauern erwischt?. Klar wäre das ein Fall für Vendetta gewesen. Sich an den Tieren eines Nachbarn zu vergreifen, ist laut „Colomba“ eine schwere Schuld. Keine Sorge, lacht Padovani, Blutrache war gestern „Die Schweine sind gekennzeichnet, der eine Bauer schlitzt seinen Tieren ein kleines Dreieck unten ins Ohr, der andere ritzt die Ohrenspitzen einmal ein, der nächste zweimal – oder gar nicht. Mehr als drei Schweinezüchter gibt es in einer Region sowieso nicht.“

 

 

Menu corse
Beim Picknick auf der Bergtour zeigt der Guide, was man alles aus den Schweinen macht. Padovani hat eine halbe Metzgerei dabei: Prisuttu, luftgetrockneten Rohschinken, circa 20 Monate gereift, Coppa, Lonzu, gepöckeltes, geräuchertes, luftgetrocknetes Schweinefilet, sowie alte, luftgetrocknete Salami, Figatellu, Blutwurst und frische Pasteten mit Myrte im Topf. Figatellu ist eine korsische Besonderheit: die geräucherte, manchmal recht fette, mit Rotwein oder Rosé aromatisierte, sehr dunkle, dünne Leberwurst wird roh und kalt oder grilliert verspeist.
Charcuterie aus einheimischer Produktion ist fester Bestandteil eines Menu corse. Meist wird sie an zweiter Stelle nach einer gehaltvollen Gemüsesuppe serviert. Und weil man ein Volk von Bauern ist, kommt danach kein Fisch, sondern Wildschwein oder anderes Fleisch auf den Tisch. Zum Abschluss gibt es Süsses mit Kastanien oder Käse mit Süssem. Der Käse kommt auf Korsika generell nicht von der Kuh, denn die läuft ebenfalls frei in den Bergen herum und gibt keine Milch. Brebis und Chèvre werden mit Konfitüren aus korsischen Feigen, Mandarinen oder Zedratorangen serviert. Oder mit Rosmarin und Honig aus dem Paradies. Der eine, weil es auf eine Korsika eine endemische, nirgends sonst so wohlschmeckende, aromatische Art gibt; der andere, weil aus den duftenden Blüten der ungedüngten, unverschmutzten Macchiapflanzen der Nektar wie in Strömen fliesst.

 

 

Erholung in der Natur: Tipps und Adressen
Info: www.franceguide.com, www.visit-corsica.com
Zimmer mit Aussicht: Case Latine, www.caselatine.com, geschmackvolles Hotel de Charme im Bergdorf Lama, das wie ein Adlernest über dem fruchtbaren Ostriconi-Tal liegt, weiter Blick über Tal und Meer, Privatpools, Tipp: Höhenwanderung von Lama nach Urtaca. U Palazzu, www.hotel-corse-palazzu.com, Hotel de Charme in historischem Palast im Bergdorf Pigna, grandioser Blick auf die Balagne und Küste, Tipp: Wanderung von Pigna zum Couvent de Corbara, weiter auf den Monte Sant‘Angelo, Capu Corbinu, Sant‘Antonino und zurück, in Corbara im Musée Guy Savelli klingeln, in Sant’Antonino auf einen frischen Zitrussaft in der Cantina Clos Antonini einkehren, polyphonische Gesänge im Auditorium Pigna anhören. Casa Morati, schöne Ferienwohnungen mit Garten, Frühstücks- und Zimmerservice in Murato, buchbar über Campo di Monte (s.u.). Murtoli, www.murtoli.ch, Schafställe und Steinhäuser der Luxusklasse im Tal des Ortolo und an der Bucht von Rocapina im Südwesten, www.murtoli.com.

 

 
Korsische Küche und Menüs: Ferme de Campo di Monte, www.fermecampodimonte.com, 04 95 37 64 39, weit gerühmter Landgasthof mit herrlichem Blick bei Murato. Auberge Pietra Moneta, 04 95 60 24 88, bäuerlicher Gasthof im Ostriconi-Tal, lauschiger Innenhof. La Taverne Corse, 04 95 61 70 15, romantische Lage im Bergdorf Sant’Antonino, umwerfender Ausblick. U Museu, 04 95 61 08 36, an der Zitadelle (Museum von Corte), grosse Auswahl korsischer Spezialitäten inkl. Pizza mit Brocciu (Frischkäse aus Schafs-/ Ziegenmilch). A Muntagnera, 04 95 46 31 02, Boutique, Auberge, Restaurant am Col de Vizzavona, Vivario, mit exzellenter Figatellu und Fleisch vom Holzfeuer, Tipp: Wanderung zu den Cascades Anglaises, Klettergarten in der Nähe. Restaurant 20123, 04 95 21 50 05, 2, Rue du Roi de Rome, in der Altstadt von Ajaccio, man muss Wasser selbst am Brunnen holen, Atmosphäre und Gerichte wie zu Zeiten der Freiheitskämpfer, Lifemusik. U Sirenu, 04 95 77 21 85, Landbeiz mit Gastgarten an der Strasse zwischen Sartène und Murtoli, Sanglierspezialitäten, Fleisch vom Holzfeuer, Jägertreffpunkt.

 
Wandern/ Exkursionen: GR 20, anspruchsvoller alpiner, 180 – 200 km langer Fernwanderweg durch Korsika, insg. ca. 14 Tagesetappen. Leichtere Wege mit 5-6 Tagesetappen: Da Mare a Mare und Tra Mare e Monti. Geführte Aktivtouren, vom GR 20 bis zu Gumpentouren und Canyoning, Jean-Paul Padovani, www.corsicanatura.com, 06 03 56 24 33, inkl. Picknick/ Verpflegung, Gepäcktransport, Unterkunft in Hütten oder Zelten. Balade avec nez, Stéphane Rogliano, www.plante-aromatique.com, 04 95 70 34 64, botanische Macchia-Exkursionen Bergtouren in der Alta Rocca im Süden Korsikas.

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