FRONTPAGE

«Das Wahlrecht bei Rousseau». Eine kritische Ansprache.

Von Isolde Schaad

Verehrter dreihundertjähriger Roussseau, Sie sind ja sozusagen unser Verfassungsrechtler avant la lettre, und gehen gleich in medias Res. Es ist zweifellos visionär, wenn sich einer hinsetzt, um ein allgemeines Wahlrecht zu entwerfen, ein viertel Jahrhundert vor Ausbruch der französischen Revolution. Dabei sind Sie in der Sache so gründlich wie ein Genfer Calvinist, und sehen Sie, da regt sich Widerspruch in mir. Doch davon später.

Denn es dauert noch 27 Jahre, bis der Sturm auf die Bastille beginnt und die Köpfe des Absolutismus rollen. Sie aber erarbeiten bereits das Szenario für den Urnengang der folgenden Jahrhunderte. Die detailversessene Leidenschaft, mit der Sie darin ihre Theorie von der Freiheit und Gleichheit des Menschen in die Praxis umzusetzen suchen, ist eine Leistung für sich, die Ihnen kein Europäer ihrer Zeit so leicht nachmacht. Da kann dann ein juristisches Greenhorn wie ich nur staunen, wie Sie zwischen dem allgemeinen Willen und dem Willen aller unterscheiden. Das müssen sie mir noch genauer erklären. Sie sind ja aus eigener Kraft, wir würden sagen autodidaktisch – so etwas wie ein wilder Denker geworden, Schulen haben sie keine besucht, lediglich zwei Berufslehren abgebrochen und werden flugs zum Genie.

Klingt heroisch, nicht wahr, vielleicht zu heroisch. Wird Ihnen dabei nicht etwas mulmig? Und fällt Ihnen nicht auf, dass Sie zwar weit über den Horizont hinausdenken, aber das Naheliegende ausser Acht lassen? Sie appellieren feurig an die Freiheit und Gleichheit des Menschen, und vergessen dann Frau und Kinder. Doch da Sie selber durch diesen zum Allgemeingut forcierten Schandfleck genug gestraft sind, lassen Sie uns lieber Ihr Denken am Wortlaut verfolgen. Betrachten wir das Kapitel zwei im vierten Buch, da schreiben Sie zum Thema Wahlrecht das Folgende.
 

Ein jeder spricht mit seiner Wahlstimme seine Meinung aus, und die Stimmenzählung ergibt die Erklärung des allgemeinen Willens. Wenn also die Meinung siegt, die der meinen widerspricht, beweist das nur, dass ich mich geirrt habe, und dass der allgemeine Wille anderes will, als ich angenommen hatte. Wenn mein Sonderwille gesiegt hätte, hätte ich gegen meinen eigenen Willen gehandelt und wäre somit nicht frei gewesen.

 

Sie sind also, verehrter Rousseau, davon überzeugt, dass die Mehrheit recht hat, und dass mein eigener Wille mit der Mehrheit übereinstimmen sollte. Man nennt bei uns Mit den Wölfen heulen, was Sie offenbar unter ihrer berühmten volontée generale verstehen: Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie sind doch keiner, der mit den Wölfen heult, und andere dazu auffordert, Sie sind alles andere als ein Populist. Abgesehen davon, dass heulenden Wölfe zu Ihrer Zeit noch eine existentielle Gefahr bedeuten, für die Leibeigenen der Bauernhöfe ganz besonders, und gerade die wollen sie doch befreien. In der Hochkonjunktur des Feudalismus hat das Volk ganz andere Sorgen als die SVP, von der wir Tiermetaphern gewohnt sind. Ausserdem ist das Volk, von dem Sie sprechen, ja erst eine Zukunftsvision, die darin besteht, einer neuen Schicht von mündigen Bürgern, freien Bürgern sagen Sie, das Wahl- und Stimmrecht zu gewähren. Sie haben dafür einen Begriff geprägt, den wir heute noch verwenden, nämlich la souverainité, der Souverän, ein interessantes Detail, dass dieser Begriff auf französisch weiblich und auf deutsch männlich ist. Ich stelle fest, dass die deutsche Sprache zwar plumper aber ehrlicher ist, während die französische elegant die Tatsache überspielt, dass die Weiblichkeit im Souverän nicht enthalten ist.

 

Ein Widerspruch in sich, eine contradictio in adjecto, sagt die Betroffene, die vor Ihnen steht, um Ihnen auftrumpfend und ein bisschen wichtigtuerisch darzulegen, dass Frauen denken können, und es in ihrem Umfeld durchaus fähige StimmbürgerInnen gegeben hätte. Damit meine ich nicht nur gebildete Frauen wie die Lebensabschnittspartnerin ihres Kollegen Voltaire, Emilie de Chatelet, ich glaube sie war Mathematikerin, sondern ich denke an das Naheliegende, nämlich an Ihre eigene
Gefährtin Thérèse, von der sie einmal behaupteten, sie könne nicht auf zwanzig zählen.

 

Halten wir fest. Sie sind ein Visionär, ein Vordenker und trotzdem ein Macho, doch das Weib, das vor Ihnen steht, will nun nicht pingelig sein, und von Ihnen – dann zumal ein armer Hund – verlangt haben, dass Sie auf der Flucht an alles dachten, sogar an das Stimm-und Wahlrecht der Frauen, dafür muss die Zeit reifen, bis die Suffragetten erscheinen und nachholen, was Ihnen im Entwurf des allgemeinen Wahlrechts zu erwähnen entging.

Seien wir also tolerant, selbst wenn es schwer zu fassen ist, dass einer wie Sie, der Freiheit und Gleichheit zum Prinzip erklärt, und dabei das Blümchen am Wege nicht übersieht, die weibliche Menschenmehrheit nicht in den Gesellschaftsvertrag einbezieht. Gewiss war das weder böse Absicht noch Bequemlichkeit, oh nein, es ist halt die klassische Unbewusstheit der Männer gegenüber den Leistungen von Frauen, insbesondere ihrem Intellekt. Bevor nun die späte Suffragette hier zu räsonnieren beginnt, und Sie dann gewiss weghören, wie das ihre Sinnesgenossen bis heute so gerne tun, wollen wir noch den letzten Satz ihres Wahlrechtstextes betrachten.
 

Wenn mein Sonderwille gesiegt hätte, hätte ich gegen meinen eigenen Willen gehandelt und wäre somit nicht frei gewesen.
 
Ihre Schlussfolgerung ist mir schleierhaft. Wie kommen Sie zur finsteren Behauptung, dass nicht mein eigener Wille, sondern der Wille der Mehrheit mich erst frei machen wird? Da fehlt es mit Verlaub an der Logik, es sei denn, dass Sie die persönliche Freiheit als Konzession an die Mehrheit verstehen, im Sinne von: ‚de Gschiider gitt nah, de Esel blibt schtah‘.

Wollen Sie uns denn zum Mainstream befreien? Kann es sein, dass Sie als Kulturphilosoph tatsächlich von einer herrschenden Bürgersclique, die dann den Adel ersetzt, gegängelt werden wollen? Aber halt, halt. Da spricht ja ein Zornige dieser Tage, und vergisst, dass Sie ihren Einwand noch gar nicht nachvollziehen können. Weil von der modernen Demokratie – weder einer parlamentarischen noch einer direkten, in Ihrem contrat sociale noch gar nicht die Rede sein kann. Ihnen geht es vorerst um die Idee eines Abstimmungsverfahrens als Instrument der Entscheidungsfindung, und die allein ist schon eine bestechende Innovation. Wer dann daran beteiligt wird, wer also mitbestimmen kann, ist eine andere Frage, und – hoppla, steht die denn nicht bis heute im Raum, wenn wir bedenken, dass zwanzig Prozent unserer Mitmenschen, die wir so nett Ausländer nennen, noch heute von diesem Wahlrecht ausgeschlossen sind? Da wird die Zornige schleunigst still.

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