FRONTPAGE

«Parallel: die grossen und die kleinen Geschichten»

Von Hedi Wyss

Politiker und Wissenschaftler sind sich längst darüber einig, dass die Katastrophe da ist. Und versuchen auch, etwas zu tun. Mitte Juni fand in Rio der zweite Erdgipfel statt, eine Konferenz, bei der man sich darüber unterhielt, welche Massnahmen das Verderben aufhalten könnten.

 

Die Baronin und die Gräfin besuchen Herrn von Schuer. Die Atmosphäre ist geschwängert von dem, was unausgesprochen zwischen Schuer und der Gräfin an Anziehung läuft. Die Ambiance gepflegt, herrschaftlich, fast eine Idylle, breit gefächert die Beschreibungen der Gefühle und Gedanken. Dazwischen Anspielungen auf das, was in diesem Jahr 39 des Zwanzigsten Jahrhunderts läuft. Herr von Schuer und die Gräfin sind engagiert in wissenschaftlichen Programmen um «Rassenhygiene» und Platz für das Deutsche Volk, und irgendjemand redet davon, dass Bekannte planten, nach Amerika auszureisen.

In dem Roman von Peter Nadas, «Parallelgeschichten», zeigen sich die grossen Geschehnisse des Zwanzigsten Jahrhunderts – der zweite Weltkrieg, der Holocaust, und später die Tragödien unter sowjetischer Herrschaft – wie Dekors im Hintergrund, anhand von persönlichen Tragödien auch, da und dort.

 

Die grossen Ereignisse der Geschichte werden von denen, die sie erleben, oft erst im Nachhinein richtig wahrgenommen. Oder wenn sie direkt betroffen sind. Der Alltag, die persönlichen Pläne und Hoffnungen sind das Wichtigste.

Und jetzt? Heute? Was tut sich im Hintergrund? Auch irgendetwas Grosses. Ich fahre im Bus, die Häuser wie immer, da und dort eine Baustelle. Der Wind, so dachte ich gestern, ist dann und wann vielleicht anders, denn gestern sprachen sie in den Medien von den Extremen des Wetters, die sich häufen. Aber ich bin beschäftigt damit, mich zu erinnern, was ich beim Einkaufen nicht vergessen sollte und wen ich heute noch anrufen muss. Und dann wiegen sich die frischen Triebe der Kletterrose vor meinem Fenster wie immer in dieser Jahreszeit, schon weit entwickelt die Blüten an ihren Enden.
Das Alltagsgefühl. Hat sich etwas verändert? Der Lärm vielleicht, der sich verstärkt hat in den letzten Jahren, oder wie ich seit einiger Zeit das Gefühl habe, am See wälzten sich bei schönem Wetter Menschenmassen wie nie zuvor.

 

Dahinter aber ein Gefühl, das immer irgendwie da ist, das fast verschwindet in gewissen Augenblicken. Verlustgefühl, weil etwa seit einigen Jahren die Rotschwänzchen ihr Nest an meinem Haus nicht mehr bewohnen, oder dass ich schon lange vergeblich nach den Baumläufern an den rissigen Rinden der alten Bäume Ausschau halte. Auch hier also, denke ich. Gehört irgendwie dazu zu der anderen, der grossen Geschichte dahinter. In Bildern da und dort zeigt sie sich, wird wieder vergessen: eine Zeitungsnotiz, dass das Eis an den Polen schneller abschmilzt, als vorausberechnet.

Ein Bild wie Millionen von kleinen Fischen an der Ostküste der USA zwischen schaukelnden Segelbooten Bauch nach oben tot dahintreiben. Dazu eine Bildlegende, dass die Todeszonen im Meer, wo Sauerstoff fehlt, immer grösser und häufiger werden. Oder das Bild einer Orang-Utan Mutter mit ihrem Neugeborenen (warum gleicht sie denn so einer Menschenfrau, was kaum auszuhalten ist?), die auf der Suche nach Nahrung durch ein abgeholztes Stück Regenwald irrt. Und Tage danach die Notiz, dass China die Nahrung für seine Menschenmassen jetzt in Afrika im grossen Stil anbaut, und die einheimischen Bauern vertrieben werden. Und eine ganze Seite voller langer Zahlenreihen, die zeigen, wie sich der Verlust der Biodiversität, das Aussterben von Pflanzen und Tieren in den letzten zwanzig Jahren beschleunigt hat. Und an einem Strand im südlichen Peru verenden die Delphine zu tausenden. Die Ursache, vielleicht weil man mit ohrenbetäubendem Echosound den Meeresboden nach Öl und Gas und anderen Bodenschätzen absucht? Doch dann schliesst sich wieder der Alltag über all dem : Ein Glas Wein zu einem guten Essen mit Freunden, eine wunderbare Ausstellung zeitgenössischer Kunst, ein Konzert, das die Bewunderung weckt für das, was der Mensch an Kunst und Schönheit fertig bringt.
Und doch, die grosse Geschichte ist da, sie ereignet sich jetzt, sie wurde schon vor Jahren benannt. Es ist das neueste grosse Massenaussterben der Erdgeschichte. Das erste geschah vor 490 Mio. Jahren, als rund 80% aller Lebewesen verschwanden, das spektakulärste vor rund 65Mio Jahren, als die Dinosaurier verschwanden.

 

Wahrscheinlich befinden wir uns jetzt im letzten grossen Massenaussterben. Über die Ursachen all dieser Katastrophen ist man sich nicht ganz klar. Die Saurier, so die Theorie fielen wahrscheinlich einem Meteoriten zum Opfer, der ihre Lebensumstände in kürzester Zeit veränderte.
Die Ursache dessen, was jetzt geschieht, sind wir selbst, die Menschen, die sich in rasender Weise vermehren und mit ihrer Technik alles verändern. Können wir etwas dafür, sind wir schuldig irgendwie? Oder einfach ein Ereignis der Evolution, die mit Zufall und Überlebensfähigkeit spielt, so wie der Meteorit? Unser Gehirn, das sich so entwickelte und nicht anders und das all das kann und tut, von Mozarts Symphonien bis zu den schrecklichsten Maschinen alles erschaffen kann?

Politiker und Wissenschaftler sind sich längst darüber einig, dass die Katastrophe da ist. Und versuchen auch, etwas zu tun. Mitte Juni fand in Rio der zweite Erdgipfel statt, eine Konferenz, bei der man sich darüber unterhielt, welche Massnahmen das Verderben aufhalten könnten. Aber die Politiker hatten keine Zeit, dorthin zu gehen. Unsere Bundespräsidentin hat ihre Teilnahme abgesagt, ebenso Frau Merkel und andere auch. Denn vor der grossen Geschichte, die im Gange ist, ereignet sich eine kleinere aber aktuelle und brennende Geschichte : die Finanzkrise, die Krise des Euro.
Parallelgeschichten. Grosse und kleine Geschichten, verquickt und auf fatale Weise verwoben.

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