FRONTPAGE

«Surreales Experiment: Dunkle Zahlen»

Von Ingrid Isermann

 

Zugegeben, ein attraktives Cover kann dazu verführen, ein Buch überhaupt in die Hand zu nehmen. Und wenn es wie Visuelle Poesie aussieht, erst recht. Nicht immer hält der Inhalt, was das Cover verspricht. Hier entwirft Matthias Senkel (*1977 in Graz) eine in die Zukunft reichende surreale und verführerische Parabel über binäre Codes und künstliche Intelligenz.

 

Moskau, 27. Mai 1985: 

In siebeneinhalb Stunden würde Dimitri Sowakow ans Mikrofon treten und die zweite internationale Spartakiade der jungen Programmier eröffnen. Noch aber stand der Vorsitzende des Spartakiadekomitees auf der Schwelle eines zweckentfremdeten Hotelzimmers. Auf dem Flur surrten Dutzende Bandmaschinen. Bei den Aufzügen sammelten sich Sondereinsatzkräfte in Zivil, Männer und Frauen in gepflegter Garderobe, in Arbeitskluft, in Volkstracht. Abhörtechniker bereiteten sich auf Iden Schichtwechsel vor, zogen bequeme Schlappen an. Dimitri war ein wenig blass um die Nase, und seine Anstecknadel sass schief. Die Genossin Generalmajor hatte ihn auf die gesperrte Etage des Hotel Kosmos einbestellt. Von hier oben also würde Jewhenija Swetljatschenko ihren einwöchigen Spezialeinsatz koordinieren.

 

Die internationale Programmierer-Spartakiade hält die akademischen Eliten des Landes in Atem. Hier messen sich aufstrebende Mathematiker in den Techniken der Zukunft, die nur noch einen Tastendruck entfernt scheint. Doch die kubanische Nationalmannschaft ist kurz vor der Eröffnung des Wettbewerbs spurlos verschwunden. Ihre resolute Übersetzerin Mireya begibt sich auf eine atemlose Suche durch die fremde Hauptstadt, die wie elektrostatisch aufgeladen surrt und flimmert. Architekten und Agenten, dichtende Maschinen und sogar Stalins leibhaftiger Schatten treffen in dieser wilden und manchmal fantastischen Erzählung aufeinander: ein schillerndes Mosaik der Sowjetunion kurz vor der folgenreichen Vernetzung der Welt.

 

 

Matthias Senkel, *1977 in Graz, lebt in Leipzig. 2012 erschien sein Debütroman «Frühe Vögel» im Aufbau-Verlag, Berlin, der mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis und dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet wurde.

 

 

Matthias Senkel
Dunkle Zahlen

Matthes & Seitz, Berlin 2018

488 Seiten

€ 19.99

ISBN: 978-3-95757-579-1

 

 

«Donna Leon: Heimliche Versuchung»

Brunetti, smarter Commissario der Venezia-Krimis von Donna Leon, lässt auch sein neuester Fall nicht kalt. Und seine zahlreichen Fans schon gar nicht. Auch diesen Fall wird Guido Brunetti mit gewohnter Eleganz zur Zufriedenheit seiner Leserinnen und Leser lösen. Der perfekte Sommerkrimi!

 

Als eine Bekannte von Paola in der Questura vorspricht, glaubt Brunetti zunächst, sie mache sich unnötig Sorgen um ihre Familie. Da wird ihr Mann im Koma ins Krankenhaus eingeliefert. Ein Überfall und Verbindungen ins Drogenmilieu liegen nah. Konkrete Anhaltspunkte fehlen. Und doch stösst der Commissario aller­orten auf Betrügereien, ja sogar auf ein Leck in der Questura. Fakten bekommt er keine zu fassen, geschweige denn einen Täter. Aber sein Gerechtigkeitssinn lässt ihm keine Ruhe.

 

 

 

Leseprobe

Auf seinem Schreibtisch fand Brunetti, was er lieber
nicht gefunden hätte: eine Akte, die seit ihrem ersten
Auf tauchen in der Questura immer weiter angeschwollen
war. Das letzte Mal hatte er sie vor etwa zwei Monaten gesehen,
als sie eine Woche in seinem Eingangskorb gelegen
hatte und einfach nicht von selbst verschwinden wollte –
wie ein ungebetener Gast, der zu viel trinkt, beim Essen
schweigt und immer noch da ist, wenn alle anderen Gäste
längst gegangen sind. Brunetti hatte die Akte nicht angefordert,
sie betraf ihn nicht weiter, und jetzt fiel ihm nichts ein,
wie er sie loswerden könnte.
Die dunkelgrüne Mappe versammelte Gesetzesverstöße
im Zusammenhang mit Autos: Raserei, Fahrerflucht, Beschädigung
von Radarfallen, Alkohol im Straßenverkehr,
Telefonieren oder, viel gefährlicher, Simsen am Steuer. Mit
Vergehen dieser Art hatte die Questura in einer Stadt ohne
Autos eher selten zu tun.
Die Mappe enthielt jedoch auch Fälle, in denen es um illegale
Beschaffung von Dokumenten ging: Fahrzeugbriefe,
Versicherungsnachweise, Führerscheine, Fahrprüfungsergebnisse.
Selbst wenn für diese Dokumente die Zentrale
in Mestre zuständig war, wurde jeder Versuch, sie illegal zu
erwerben, wie überhaupt jede Straf tat, die in den eng verbundenen
Kommunen begangen wurde, auch der Polizei in
Venedig gemeldet.
Zurzeit füllte ein Vorfall auf dem Festland die Spalten
der Presse. Schon seit dem ersten Bericht, den er darüber
gelesen hatte, konnte Brunetti die unerschöpfliche Kreativität
seiner Mitmenschen nur bewundern. Aufgeflogen
war das Ganze im Krankenhaus von Mestre, wo sich innerhalb
von zwei Tagen fünf Männer in der Notaufnahme
meldeten, alle mit winzigen Funkempfängern in den Ohren,
die ihnen so tief eingepflanzt worden waren, dass sie
sie selbst nicht mehr herausbekamen. Die Ärzte entdeckten
dann bei allen außerdem am Bauch befestigte Sender
und an der Brust Minikameras, deren Objektive durch die
Knopf löcher spähten.

 

Donna Leon
Heimliche Versuchung
Commissario Brunettis
siebenundzwanzigster Fall
Roman
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Diogenes Zürich, 2018
336 Seiten
CHF 27. € (D) 20.99. € (A) 20.99
ISBN 978-3-257-60867-0
eBook

 

 

 

«Umbruch am Bodensee – Vom Konstanzer Konzil bis zum Sturm auf Ittingen»

 

Der prächtige Bildband liest sich wie ein historischer Krimi. Der Thurgau in seinen heutigen Grenzen ist eine Folge der Ereignisse des Konzils von Konstanz (1414–1418). Damals nahm eine Entwicklung ihren Anfang, die erst mit dem Ende des Ancien Régime 1798 endete. Was die komplizierten Herrschaftsverhältnisse im Alltag für die Menschen bedeuteten, und weshalb das kirchliche Leben im Thurgau eine im Vergleich mit dem Zürichbiet ganz andere Entwicklung nahm, sind Themen, die der Abschlussband der Buchreihe «Der Thurgau im späten Mittelalter» zur Darstellung bringt.

 

Die Zeit zwischen dem Konstanzer Konzil und der Reformation war turbulent. Ausgelöst durch einen Streit König Sigismunds mit dem Habsburger Friedrich IV. am Konzil von Konstanz kam im Bodenseeraum ein Prozess in Gang, der die Weichen für die Zukunft der Region stellte. Der Thurgau wurde gemeine Herrschaft der eidgenössischen Orte, Konstanz verlor seinen Einfluss im Hinterland. Als um 1520 die kirchliche Ordnung ins Wanken geriet, stand der Thurgau wiederum zwischen Fronten. Aus Konstanz drang lutherisches Gedankengut in die Dörfer. Im zürcherischen Grenzgebiet predigten Anhänger Zwinglis, und der katholische Landvogt tat alles, um die Ausbreitung des neuen Glaubens zu verhindern. 1524 eskalierte die Situation: Es kam zum Bauernsturm auf das Kloster Ittingen.

 

 
Folgen der spätmittelalterlichen Herrschaftsverhältnisse
In der Publikation «Umbruch am Bodensee» beleuchten 17 Autorinnen und Autoren aus den Fachbereichen Geschichte, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Theologie die Entwicklungen im Thurgau an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Dabei wechseln sich Überblicksdarstellungen mit Schlaglichtern auf Einzelpersonen ab, in deren Leben und Handeln sich historische Ereignisse widerspiegeln.
Obschon der Thurgau seit 1460 als Untertanengebiet der eidgenössischen Orte aus der habsburgischen Herrschaft herausgelöst war, hielten sich die spätmittelalterlichen Strukturen in der Region bis weit in die Neuzeit hinein. Adelsfamilien, die Klöster und der Bischof von Konstanz übten ihre herkömmlichen Rechte weiterhin aus: Ihnen oblag die niedere Gerichtsbarkeit, und sie bestimmten, in welcher Kirche zuerst katholische Messe oder evangelischer Gottesdienst gefeiert werden durfte.

 

 

Klöster, Kirchen, Pilgerwege und das Rätsel von Konstanz am Bosporus
Die reiche Sakrallandschaft des Thurgaus mit ihren Klöstern, Kirchen und Pilgerwegen nimmt im Band breiten Raum ein und ist prachtvoll bebildert. Dabei kommt viel Neues und Überraschendes ans Licht: So legt Peter Erni dar, weshalb die Entstehung der Wandmalereien in der Kapelle Landschlacht mit dem Konstanzer Konzil zusammenhängen.
Dominik Gügels Betrachtung des Feldbacher Altars bringt spektakuläre Ergebnisse, die das hochkarätige Kunstwerk und seine bislang im Dunkeln liegende Entstehungsgeschichte in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Aufsehenerregend ist dabei die Landschaft im Hintergrund der Kreuzigungsszene: Der Maler siedelte die Stadt Konstanz am Bosporus an; die Schiffe auf dem vermeintlichen Bodensee segeln unter osmanischer Flagge mit rotem Halbmond. Den grossen gotischen Turm schmückt nicht etwa ein Kreuz, sondern ebenfalls ein Halbmond, ein deutlich sichtbarer Muezzin ruft zum Gebet. Ein Minarett in Konstanz? Handelt es sich überhaupt um Konstanz oder erzählt der Maler im Feldbacher Altar eine ganz andere Geschichte, eine historische Episode, die die Menschen jener Zeit in ganz Europa beschäftigte?

 

 

Vorreformatorischer Aufbruch in den Dorfkirchen
Der Band stellt auch das Leben in den Thurgauer Dorfkirchen am Vorabend der Reformation anschaulich und grundlegend dar. Die Bauern forderten mehr Seelsorge, bessere Pfarrer und schönere Kirchen, und sie engagierten sich dafür finanziell. Die spätgotische Kirche in Gachnang ist ein architektonischer Zeuge dieser um 1500 fast alle Pfarreien erfassenden Bewegung. Der Blick auf die Herrschaftsverhältnisse in den Gemeinden, wo Adlige, Klöster und der Bischof auch nach der Reformation grossen Einfluss nahmen, macht verständlich, weshalb sich die Reformation im Thurgau anders entwickelte als im nahen Zürich. Die paritätische Nutzung der Gotteshäuser war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die thurgauische Lösung für das friedliche Zusammenleben der Konfessionen.
Wie schon die früher erschienenen, einzeln erhältlichen Bände «Rom am Bodensee» und «Vom Bodensee nach Bischofszell» bietet der abschliessende Band «Umbruch am Bodensee» zahlreiche überraschende historische und kunstwissenschaftliche Erkenntnisse. Wer sich durch die leicht verständliche Lektüre dazu anregen lässt, sich im Thurgau und in Konstanz selbst auf Entdeckungsreise zu begeben, wird staunend feststellen: Hier muss eines der geistigen Zentren des mittelalterlichen Europa gewesen sein.

 

 

Silvia Volkart (* 1955), Dr. phil., Studium der Kunstgeschichte, der französischen und deutschen Literatur an der Universität Zürich. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Zürich. Danach freiberuflich als Kunsthistorikerin und Publizistin tätig. Seit 2012 Projektleiterin der Publikationsreihe «Der Thurgau im späten Mittelalter».

 

 

Silvia Volkart (Hrsg.)
Umbruch am Bodensee
NZZ Libro Zürich, 2018.
440 S., ca. 200 Abb.,
CHF 54. € 54.

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