FRONTPAGE

George Tabori: «Söhne sind Schurken»

Von Angelika Overath

 

Der Skandal seines Lebens war die Tatsache, nicht tot zu sein. «Und starb an meiner Stelle» konnte er von einem in Buchenwald ermordeten Freund sagen. Er war ein Fremder: als Überlebender, Jude, Ausländer, Schriftsteller. Die Parallelwirklichkeit des Theaters wurde seine Heimat. Zum 100. Geburtstag von George Tabori ist eine Neuauflage seiner berühmten Erinnerungen «Autodafé» erschienen.

In anekdotischer Verdichtung handeln sie von der Geburt in einem grossbürgerlichen Budapester Haus (wo die Mutter das Wehen provozierende Lachen, das der Arzt angeraten hatte, wieder unterdrücken musste, weil die Grossmutter bat, sie solle warten, dann werde es ein Sonntagskind) bis zur Lehre des «Judenbuben» im feinen Berliner Hotel Hessler Anfang der 30iger Jahre, als sich die Nazis schon gespenstisch breitmachten. In seinem Sterbejahr 2007 hatte Tabori noch einmal begonnen (nun auf deutsch), die Fortsetzung dieser Erinnerungen «Exodus» zu schreiben. Sie blieben ein Fragment. Die Lebensbilder streifen die paradox heiteren Journalistenjahre des Londoner Exils, die exotische Korrespondentenzeit in Sofia, Istanbul, Jerusalem zwischen 1936 und 1943. Damals waren die Tage leicht, die roten Lippen der Frauen «zwei rote Versprechen» und der Krieg fern. «Aber dieser Widerspruch, den ich erst später wahrgenommen habe, hat mein Leben bestimmt». Als alter Mann suchte er in Ausschwitz nach den Spuren des Vaters.

 

In Taboris phantastischem Kosmos ist das Normale erschreckend absurd und das Absurde pervers normal. Hinreissend schräg ein Abend beim englischen Hochadel auf einem Schloss, in dem Schildkröten sich frei in den Korridoren bewegen; berührend ein Familientreffen am Vorabend des Holocaust in Budapest, wo die baldigen Toten sich noch einmal über Putenbraten und Palatschinken beugen. Und die apokalyptischen Warnungen des Vaters freundlich abtun. Er rät dem Sohn, nach Bulgarien zu gehen. «Mein Vater schaute mich an, lange, ein Blick wie ein Gebet. Es war das letzte Mal, dass ich in seine Augen sah. Ich habe mich nie bei ihm bedankt für diesen lebensrettenden Vorschlag. Söhne sind Schurken». Und der Schmerz ist ein Witz.

 

 

George Tabori
Autodafé und Exodus
Erinnerungen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014
157 S., CHF 29.90.

 

 

L&K-Buchtipps

 

 

 

 

Urs Faes: Sommer in Brandenburg

 

«Vielleicht werde ich einmal über diesen Sommer in Brandenburg schreiben», sagt Ron zu Lissy, als sie ihn beim Tagebuchschreiben ertappt. Er stammt aus Hamburg, sie aus Wien, wir schreiben das Jahr 1938, und sie haben sich in dem von jüdischen Organisationen betriebenen «Landwerk» in Ahrensdorf bei Trebbin kennengelernt, wo junge Leute mit Kursen in Landbau, Sprachen und jüdischer Religion auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet werden. Ron wird das «Glück auf Zeit», das den beiden geschenkt ist, nicht mehr beschreiben können. Das letzte, was man von ihm weiss, ist, dass er 1943 in ein Konzentrationslager verschleppt wurde, während Lissys Spur irgendwo auf dem Weg nach Palästina oder in Palästina selbst verloren geht.

 

 

«Wenn die Tora gebrochen, die Welt aus den Fugen ist, wie jetzt», gelinge manchmal «im Erzählen die Wiederherstellung», hat Ron in einem der im «Landwerk» gehaltenen Vorträge gehört. Und es mutet wie eine rätselhafte Fügung an, dass mehr als sieben Jahrzehnte nach seinem Tod der Schriftsteller Urs Faes auf ein Bild des Liebespaars von 1938 stösst und dessen Schicksal in Brandenburg und in Palästina aufzuspüren beginnt.
«Es bleibt uns nur das Nacherzählen, auch in der Tora wird nacherzählt», sagt einer der Überlebenden des «Landwerks» zu ihm, und wenn Faes auch nicht nachzuerzählen vermag, «was wirklich gewesen ist», sondern nur, «was gewesen sein könnte», so gehört seine erzählerische «Wiederherstellung» bei aller scheinbaren Idyllik und Privatheit dennoch zu den gewichtigen und unmittelbar berührenden späten Auseinandersetzungen mit jenem Jahrtausendverbrechen, von dem er den erwähnten Shoa-Überlebenden sagen lässt: «Es kann kein Vergessen geben; man kann nicht vergessen, was die Vernunft übersteigt. Das Unvorstellbare bleibt in Erinnerung, weil man nicht anders kann, als sich dagegen zu wehren, dass es geschehen ist».

 

Von der angestrebten Authentizität abgesehen, vermitteln die fast schon exotisch anmutenden jüdischen Bezeichnungen diesem «Sommer in Brandenburg» ein sprachliches Cachet und eine Unverwechselbarkeit, wie Urs Faes sie auch in früheren Büchern durch eine gezielte Erweiterung des literarischen Wortschatzes erreicht hat. Auf einem ersten nächtlichen Spaziergang entdecken die beiden die Kraniche als wesensverwandte, ebenso freiheitsdurstige, aber flug- und fluchtfähige Wesen. Auf dem Bild, das ein Fotograf von ihnen macht, erscheinen sie «so ganz nah bei sich und beieinander». Nachts schwimmen sie nackt im Teich, und als sie ihm ihre Liebe erklärt, geschieht es in Form eines handgefertigten Büchleins mit dem Titel «Engel der Poesie». Berührend der einzige Tag, der ihnen geschenkt ist. Folgt kurz vor Lizzys Abreise die dezent evozierte Nacht im Jägerhaus, als die Liebenden sich im Wissen um die Trennung das einzige Mal ganz finden, dann der herzzerreissende Abschied und die Worte, die Ron der Geliebten in seinem letzten Brief nachschickt: «Ich habe mich ganz und gar mit Dir angesteckt. Das bleibt in mir, solange ich bin.»

Charles Linsmayer

 

(Auszug aus Erstveröffentlichung 30. März 2014, NZZ am Sonntag, mit freundlicher Genehmigung des Autors)

 

 

Urs Faes wurde 1947 in Aarau geboren, studierte Germanistik und war Lehrer in Olten, als er 1984 mit «Webfehler» debütierte. So stellen die Romane «Sommerwende» (1989),«Und Ruth» (2001) sowie «Liebesarchiv» (2008) die eigene Familiengeschichte in die Geschichte der Schweiz hinein. Der Roman «Ombra» (1997) hingegen evoziert die künstlerische Welt von Piero della Francesca, «Als hätte die Stille Türen» (2005) rollt die Liebesgeschichte von Alban Berg und Hanna Fuchs auf und «Sommer in Brandenburg» (2014) erzählt eine jüdische Liebesgeschichte von 1938.

 

 

Urs Faes

Sommer in Brandenburg

Suhrkamp, Berlin 2014.

262 Seiten, CHF 28.50.

 

 

 

 

Barbara Traber: Olga Picabia-Mohler. Für immer jung und schön.

 

Am 1. Dezember 1925 besteigt die 20-jährige Olga Mohler, Tochter des Bahnhofvorstands in Rubigen, einen Zug nach Cannes. Das Leben im Berner Aaretal ist ihr zu eng geworden und sie nimmt eine Stelle als Kindermädchen an der mondänen Côte d’Azur an. Dort lebt sie in Mougins im «Château de Mai» von Francis Picabia und seiner Lebensgefährtin Germaine Everling.

 

Die junge Schweizerin mit den blonden Zöpfen weiss nicht, dass Picabia ein berühmter Maler des Dadaismus ist. Von Kunst versteht sie nichts. Und dass sie eines Tages zur neuen Muse und der Ehefrau des viel älteren Picabia werden könnte, ahnt sie nicht. Bis sie ihr Lebensglück mit ihm findet, muss sie lange in einer schwierigen Menage-à-trois ausharren. Als sie in Cannes mit ihrem Koffer aus dem Zug steigt, übernächtigt und voller Erwartung auf all das, was sie nun erleben würde – auch etwas ängstlich und unsicher -, staunt sie über die südliche Ambiance, das helle Licht, die Palmen vor dem eleganten Bahnhofgebäude mitten in der Stadt.

«Picabia winkte sogleich nonchalent einem Porteur, der Olgas Koffer aus dem Bahnhof zum auffallenden Automobil, einem teuren, gefährlich schnellen Hispano-Suiza, hinaustrug, das er dort, ohne richtig zu parken, einfach hatte stehen lassen. (…) Der elegant gekleidete, von der Sonne braungebrannte, kleine, gedrungene Mann à la Napoleon, hätte mit 46 Jahren ihr Vater sein können, ein südländischer Typ, mit dunklen Augen, hoher Stirn und wilder Mähne, lebenserfahren und liebenswürdig, mit grosser Ausstrahlung, erfolgreich und luxusgewohnt – und das junge, unerfahrene Mädchen vom Land, das ein unbeholfenes Schulfranzösisch sprach und, leicht gehemmt, nicht die richtigen Worte fand».

 

Barbara Traber gelingt es, die prickelnde Atmosphäre der Künstlerszene an der Côte d’Azur einzufangen und die Geschichte der Olga Mohler, die später immer wieder nach Bern zurückkehrte und in ihren letzten Lebensabschnitten in Paris lebte, lebendig werden zu lassen. Das Buch ist exzellent recherchiert und eine Fundgrube für die Kunstszene des 20. Jahrhunderts. Olga bleibt bis zum Tod des Künstlers 1953 an seiner Seite und überlebt ihn um fast ein halbes Jahrhundert. Damit Picabia nicht vergessen wird und sein Werk in gute Hände kommt, gründet sie eine Stiftung, das ­Comité Picabia, und sie legt ein Album an, mit Bildern des Künstlers und Erinnerungen an ihn. Das schöne Porträt von Picabia von Olga ziert auch das Buchcover. Ein Ausspruch von Picabia wurde sogar zum geflügelten Wort auf Postkarten: «Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann».

Olga Mohler starb 2002 in Paris im Alter von 97 Jahren nur zwei Monate vor der ehrenvollen Picabia-Retrospektive, die 2003 im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris stattfand. Ihre Urne wurde auf dem Friedhof von Münsingen beigesetzt. Ingrid Isermann

 

Barbara Traber, 1943 in Thun geboren, Autorin, Lektorin, Übersetzerin, Spezialgebiet Mundart. Beiträge in Anthologien und Literaturzeitschriften. Zahlreiche Publikationen, Lyrik, Romane, Krimis, Sachbücher.
www.traber-traber.ch. Jürg Ramseier, geboren 1954 in Rubigen, freischaffender Fotograf. Ausstellungen und Kunstprojekte.

 

 

Barbara Traber
Für immer jung und schön
Olga Picabia-Mohler (1905–2002).

Eine Annäherung
Erstausgabe 2014, Geb., SU, 13 × 21 cm, 
mit farbigen Bildteilen,
256 S.
Mit Bildern aus dem Album von Olga Picabia 
und Fotos von Jürg Ramseier
CHF 36.00 / EUR 30.00
ISBN 978-3-7296-0879-5
 

 

 

Dagmar Schifferli: «Leben im Quadrat»

 

Altersheim und Demenz sind Themen, die urplötzlich in das Leben von Betroffenen einbrechen. Dagmar Schifferli nähert sich dem Thema behutsam und sensitiv.

 

Ihre unkonventionelle Protagonistin Antonia Weber ist eine mitten im Leben stehende Frau um die 50, die Jugendliche in der Betreung betagter Menschen unterrichtet und sich um ihre alten Eltern kümmert.

Ihre Wahlenkelin Sofie macht ihr viel Freude, ihr ehemaliger Schulfreud Patrick taucht wieder auf, ihre Lebensbahnen kreuzen sich erneut, während ihre langjährige Freundin Cécile sie liebevoll während der Weihnachtsferien umsorgt.

Doch Antonia hat das Gefühl, ein Leben im Quadrat zu führen und möchte aus den für sie beengenden Verhältnissen herauskommen. Ein plötzlicher Zusammenbruch zwingt sie zum Nachdenken über ihre eigene Lebenssituation und zur Änderung ihrer beruflichen Laufbahn. Das alles, die Umbrüche, die Quadratur des Kreises und eine Lebensgeschichte mitten aus dem Alltag, ist lehrreich und spannend erzählt.

Ingrid Isermann

 

 

Dagmar Schifferli, geboren 1951 in Zürich, studierte Sozialpädagogik, Psychologie und Gerontologie. Ihr erster Roman «Anna Pestalozzi-Schulthess. Ihr Leben mit Heinrich Pestalozzi» erschien 1996 (Neuauflage 2013, Römerhof Verlag) und stand monatelang auf der Schweizer Bestsellerliste.

 

 
  

Dagmar Schifferli

Leben im Quadrat

Edition 8, 2014
Lesebändchen, Fadenheftung, gebunden
Fr. 24.00, Euro: 18.00
ISBN: 978-3-85990-221-3
Auch als Ebook erhältlich

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