FRONTPAGE

«Im Bergell: Eine Hütte war immer mein Traum»

Von Ingrid Schindler

 

Auf der Alp Durbegia, 1’410 m, sitzen Wanderer in der warmen Septembersonne auf der grossen Terrasse vor der kleinen Imbissbude. Man lässt sich Ziegenkäse mit Thymian, Essig und Öl, Gerstensuppe und Bergeller Kastanientorte schmecken. Scheinbar jeder, der auf dem Sentiero panoramico zwischen Casaccia und Soglio des Weges kommt, legt hier eine Rast ein.

 

Durbegia, Vicosoprano, Bergell, Graubünden

Denn ausser dem Kiosk, wie Aldo Petti, der Wirt des Corona in Vicosoprano, sein feines Büdchen nennt, das er von Juni bis Ende Oktober zusätzlich betreibt, macht sich Gastronomie auf diesem Herzstück des Bergeller Panoramawegs rar. Fünf Stunden wandert man an idyllischen, verlassenen Ställen, Maiensässen und Cascinas, Kastanien-Dörrhütten, vorbei, bis man das bildschöne Soglio („schönstes Dorf der Schweiz 2015“) erreicht – und weit und breit keine Beiz! Schon vor ewigen Zeiten habe er deshalb bei der Gemeinde um Genehmigung nachgesucht, meint der fröhliche Kronenwirt. Seit 15 Jahren darf er immerhin dieses saisonale Provisorium am Wegesrand betreiben, vorausgesetzt, es lässt sich jederzeit problemlos abbauen.

 

Das Holzdeck mit den einfachen Biertischen, Bänken, Werbe-Sonnenschirmen und dem fantastischen Blick über das Bergell mit seinen zerklüfteten Bergzacken und verwunschenen Kastanienwäldern kommt bei den Wanderern gut an. Statt Eiscremeplakaten hängt ein Slowfoodschild über der Tür. Es gibt Bündner Bier, italienischen Espresso, Veltliner Wein. Aldo bringt täglich mit dem Auto Käse und Salsicce, Gerstensuppe, Kuchen und Wähen aus der Krone herauf. Alles ist hausgemacht, Slowfood, lokal gedacht. Die Zutaten kommen aus dem Tal. Manche Wurst und den Ziegenkäse stellt er selbst aus der Milch seiner Geissen her. Ein Teil des Käses wird als Frischkäse im Ristorante und am Kiosk verzehrt, der andere reift in der privaten Hütte seines Sohnes auf der Durbegia heran – Aldos Traum.

 

Vater und Sohn.

 

„Ich wollte immer schon Geissen halten und eine Alphütte besitzen. Eine solche wie die von Daniel war mein Traum“, gesteht uns der sympathische Süditaliener mit dem Deutschschweizer Akzent. Für Zugezogene wie ihn kein leichtes Unterfangen. Jetzt besitzt er indirekt nicht nur eine Hütte mit acht Hektar Bergwald und Wiesen und einen Stall voller Ziegen, sondern auch Esel zum Abweiden und Schweine, „für Rohschinken und Schnitzel“. Die Tiere leben wie im Paradies, in schönster Natur.
Aldos Sohn teilte mit ihm den Traum. „Daniel ist ein ausgeprägter Naturbursche“, sagt der Vater über den Sohn. Er hat Schreiner gelernt, besitzt viel handwerkliches Geschick und sei einer, der wie er zupacken kann. Passt. Gemeinsam haben Vater und Sohn die Hütte auf- und ausgebaut. „Aber es hat Sinn gemacht, dass nicht ich, sondern gleich Daniel die Hütte kauft.“ Dafür brauchte es zunächst Geduld.
„Die Capanna gehörte einem alleinstehenden, alten Mann in Borgonovo. Wir konnten sie erst nur pachten und kamen in den ersten Jahren zum Heuen und Ausschneiden von Gestrüpp, vor allem wilder Haseln, herauf.“ Das Verganden von Kulturland sei im Bergell ein Problem, weil immer weniger Boden von immer weniger Leuten bewirtschaftet werde. Junge wandern ab, Häuser stehen leer und verfallen, die Natur erobert Kulturland zurück, die Zahl der Neueinwanderer reicht nicht aus. Jedenfalls, bevor der Verkauf über die Bühne ging, verstarb der Besitzer. Die Erbengemeinschaft bestand aus 40 Personen – vier Jahre mussten Vater und Sohn warten, bis der Kauf zustande kam.

Wir schauen uns Aldos und Daniels zweihundertjährige Capanna an. Sie steht solide da, picobello, wie frisch herausgeputzt. Der harte Bergeller Granit ist im Fundament mit Sand und Mörtel verputzt, darüber sind die Granitsteine akurat zu Trockenmauerwänden aufgebaut. Das Dach und die in den oberen Stock führende Aussentreppe bestehen ebenfalls aus einheimischem Granit, der Dachstock aus hiesigem Fichten- und Lärchenholz. Es handelt sich um eine neuere Hütte, erfahren wir, denn die alten seien aus Rundholz gebaut. Der grosse Tisch vor dem Haus war einmal ein Bergeller Kastanienbaum. Den habe der Sohn selbst gemacht, verrät der Vater stolz.

 

 

Käs’ und Wurst.

 

„Eine Küche und einen Schlafraum gab es schon, die restlichen drei Viertel des Hütteninneren sind wie üblich für Vieh, Heu und Käse vorgesehen und dürfen von Gesetzes wegen nicht in Wohnraum verwandelt werden.“ Ein Bad? Nicht danach fragen, Aldo winkt ab. Es gibt eine Quelle und Leitung für kaltes Wasser, Strom kommt von Solarzellen auf dem Dach. Der ebenerdige Käsekeller ist für ihn ohnehin das Herz der Hütte. Er holt Käse, Wurst und Wein zum Probieren für uns heraus.
Einer seiner Schwiegersöhne hat ihm vor fünf Tagen Hirschfleisch gebracht, er ist Jäger. Aldo hat es zu Wurst verarbeitet. „Wenn die Würste nach drei bis vier Tagen Schimmel ansetzen, bringe ich sie auf die Durbegia und hänge sie in mäuse- und fliegensicheren Trockenkäfigen im Käsekeller zum Trocknen und Reifen auf. Solange sie noch nicht richtig beschimmelt sind, sind sie empfindlich“, meint der Profi. Frühestens nach drei Wochen wären sie essbereit, seien aber noch feucht und weich. Er wischt den Schimmel eines fertigen Hirschsalsiz ab und schneidet ihn samt Haut in grobe Stücke, während er vom Ziegenkäse den Schimmel grosszügig wegschneidet. Seine Frau Silvana hat derweil den Rotwein aufgemacht.

 

 

Italien im Herzen.

 

Herkunft und Qualität von Lebensmitteln sind Aldo wichtig, er ist Koch von Beruf und steht täglich mit der weissen Kochmütze im Corona am Herd. Für Tomaten mit Geschmack und gutes Olivenöl fährt er schon mal bis nach Molise, zweimal im Jahr, um genau zu sein, weil er in seiner alten Heimat ein Stück Land mit Weinstöcken und Olivenbäumen besitzt. 1953 als letztes von fünf Kindern in der italienischen Adriaprovinz zwischen Abruzzen und Apulien geboren, lernte er früh, anzupacken. „Die Eltern waren Kleinbauern, bauten Gemüse, Oliven, Wein für den Eigenbedarf an, es reichte gerade zum Überleben“.
Mit Sechzehn ging er, wie viele Süditaliener in jener Zeit, nach Basel und lernte Koch. Der Liebe wegen zog er ins Bergell, heiratete seine Silvana, wurde Küchenchef auf dem Corvatsch und pachtete ein Hotel in Casaccia, bevor er 1991 das Hotel-Ristorante Corona in Vicosoprano kaufte. Die Selbständigkeit liegt ihm, „’s git nüt bessers (es gibt nichts Besseres)“. 1985 lässt er sich in der Schweiz einbürgern, mit dem Herz aber bleibt er Italiener, klar.
Rückkehr in die Heimat, wenn er in Rente ist? Nein, kein Thema, Aldo schüttelt den Kopf, „mein Leben spielt hier“. Und das mit dem Ruhestand, das wird noch nichts. Seit Jahren denke er ans Aufhören, suche einen Nachfolger, „aber keiner in Sicht – schreiben Sie das!“ Die Kinder wollen den Betrieb nicht übernehmen. Man müsste modernisieren, einen Fremdkoch einstellen, das lohne sich nicht, obwohl das Restaurant auch im Winter gut besucht ist. Aber mehr Zeit für die Geissen, die Enkel, die Alp, das hätte er schon gern.

 

 

Becki, Ötzi und die Geissen.

Wir übernachten im Corona, seit 1530 herrschaftliches Gasthaus im Zentrum des malerischen Hauptorts des Bergells. Die Zimmer sind altmodisch, die Atmosphäre herzlich-entspannt. Der Chef kommt zu uns an den Frühstückstisch im spätgotischen, getäferten Gastraum, am Morgen macht er den Service selbst. Breit lachend grüsst er in die Runde, fragt uns „Händ Sie gnua k’ha?“ und wartet die Antwort nicht ab, sondern nimmt schwungvoll das halbvolle Kaffeekännchen in die Hand, um nachzufüllen. „Wenn Sie fertig sind, können wir los.“ Aldo ist parat. Wenn es zu den Geissen geht, ist er immer parat.
Mit grossen Milchkannen, Eimern und Tüten mit altem Brot ausgestattet, fahren der Capo und sein Gehilfe Luca, ebenfalls aus Molise, mit uns wie jeden Morgen zu Becki, Ötzi, Wanda, Viola, Bianchina und den anderen Bündner Strahlengeissen hinauf. Die Enkelkinder haben ihnen die hübschen Namen gegeben. Schon seit über zehn Jahren hält Aldo um die 20 Ziegen. „Für Käse und Fleisch“ sagt er cool – „und fürs Herz“. „Da da da“, ruft er und lockt die Geissen mit Brot zum Melken an. Ruhig, konzentriert, voller Hingabe, fast meditativ geht das Melken eine Stunde lang vor sich, bis jede der Geissen etwa einen Liter Milch abgegeben hat. Hier kann Aldo abschalten, zur Ruhe kommen, auftanken. Die Tiere haben es gut bei ihm. „Sie sind glücklich“, sagt er „und ich bin es bei den Ziegen auch.“

 

 

Tipps und Serviceelemente

Kastanienwälder, Naturkosmetik und das schönste Dorf der Schweiz
Der Maler Segantini nannte Soglio „die Schwelle zum Paradies“ („la soglia del paradiso“). Immer wieder wird das Bergeller Bergdorf zum schönsten Dorf der Schweiz gewählt, zuletzt 2015, wie das ganze Bergell zu den schönsten Bergtälern der Alpen zählt und 2015 vom Schweizer Heimatschutz mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet wurde. Es lohnt sich, eine Dorfführung in Soglio einzuplanen, ebenso wie einen Besuch der gleichnamigen Naturkosmetik-Manufaktur in Castasegna, die Ziegenmilch, Kastanien, Heilpflanzen und andere Rohstoffe aus den Bergen zu hochwertigen Pflegeprodukten verarbeitet. Ein absolutes Must ist der Kastanienlehrpfad in Castasegna, das Wandern in den ausgedehnten Kastanienwäldern des Bergell mit den grössten zusammenhängenden Kastanienselven Europas und der Besuch des Kastanienfestivals in der ersten Oktoberhälfte, www.bregaglia.ch, www.festivaldellacastagna.ch

 

 

Essen, Übernachten, Einkaufen – Aldo Pettis Tipps
Übernachten:

Palazzo Salis, Soglio, übernachten in 16 historischen Zimmern im prächtigen Patrizierpalast des ehedem mächtigsten Bergeller Geschlechts, hinter Mauern versteckter Garten, www.palazzo-salis.ch.

Hotel Bregaglia, Promontogno, übernachten im Künstlerhotel wie vor 100 Jahren, www.artehotelbregaglia.ch.

La Soligna, familiengeführte Hotel-Pension in Soglio, www.lasoligna.ch;

La Cascina, Castasegna, einfaches Familienferienhaus in umgebauter Dörrhütte für bis zu 10 Personen, beim Kastanienwald, www.castagneto.ch.

Essen:

Hotel Ristorante Corona, Vicosoprano, auch Übernachtung, Mamma mia! Noch steht Aldo Petti am Herd und bereitet wunderbare Pasta, Saltimbocca mit Steinpilz-Risotto und Bündner/ Bergeller Spezialitäten zu, www.hotelcorona.ch;

Crotto, Bondo, mit Boccia-Bahn, zwischen Bondo und Promontogno, Aldos Lieblingsbeiz, nur im Sommer offen;

Grotto Ombra, Chiavenna, direkt am Felsen, gute Costine und Polenta.

 

Einkaufen:

Pasticceria Caffè Salis, Castasegna, Kastanientorte im Glas probieren.

Scartazzini, Promontogno, Bäckerei, historische Mühle, Kastanienmehl, Bio-Korn; Latteria,

Vicosoprano, Sennerei-Produkte, Käse, Butter, Yoghurt von der Alp, Malöjin (Weichkäse) probieren.

 

 

Quotes und Legenden

Für die Hirschwürste verwendet Aldo zwei Drittel Hirschfleisch und ein Drittel Fleisch und grüner Speck von seinen glücklichen Schweinen. Pro Kilo würzt der das grob gehackte und durch den Fleischwolf gedrehte Fleisch mit 23 g Salz, Wacholderbeeren, Lorbeer, Knoblauch, Rotwein und Pfeffer und arbeitet die Masse gut mit den Händen durch. Danach füllt er sie in Naturdarm ab, bindet Würste ab und hängt sie zum Trocknen an Stangen auf.

Vicosoprano ist keine 20 Kilometer von Chiavenna in der italienischen Provinz Sondrio entfernt. Die Hütte der Pettis bietet nicht viel Wohn- und sehr viel Stau- und Freiraum. Die Schlafkammer ist einfach und gemütlich. Typisch für Kastanienholz sind die grossen Astlöcher. Der Wald rund um Aldos Hütte ist ergiebiges Steinpilzterrain.

 

 

Ingrid Schindler

Eine Hütte zum Glück

Die schönsten Hideaways in den Bergen

Fotos Winfried Heinze

Knesebeck, 2017

Geb., 224 S., 300 farbige Abbildungen

ISBN 978-3-86873-929-9

CHF 49.90. € 34.95 (D). € 36 (A)

 

 

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