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«Roman Wild: Auf Schritt und Tritt – Der schweizerische Schuhmarkt 1918-1948»

Von Ingrid Isermann

 

Den schweizerischen Schuhmarkt 1918-1948 hat der Historiker Roman Wild (*1985) akribisch unter die Lupe genommen. In seinem Buch «Auf Schritt und Tritt» untersucht er eine bewegte Wirtschaftsepoche und die identitätsstiftende Bedeutung der Schuhindustrie.

Kürzlich ist im Toni Areal, Museum für Gestaltung, Zürich eine grosse Retrospektive des Branchenprimus Bally zu Ende gegangen. Mit Schuhen der Extraklasse gelangte das vor 170 Jahren gegründete schweizerische Unternehmen zu weltweitem Ruhm. Mittlerweile befindet sich Bally im Besitz einer chinesischen Investorengruppe. Bei Schuhen denkt man unwillkürlich auch an die Luxusmarke Ferragamo in Florenz, der die Göttinen der Leinwand der 50er und 60er Jahre bediente. Der Name Ferragamo residiert auch an der Zürcher Bahnhofstrasse. Die Schuhe gleichen oft veritablen Kunstwerken, mitunter nicht sonderlich bequem, aber auf jeden Fall schön anzuschauen.

 

 

Der Schuh als Kulturgut
Der Historiker Roman Wild untersucht in seiner Dissertation «Auf Schritt und Tritt» die Schuhwirtschaft in der Schweiz zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Der Schuhmarkt war gesellschaftlich eingebettet, soziale Begleiterscheinungen und wirtschaftliche Entwicklungen prägten ihn massgeblich. Roman Wild untersucht aber nicht nur die marktspezifischen Herausforderungen für die Angehörigen der schweizerischen Schuhindustrie. Er zeigt lebhaft auf, wie diese Herausforderungen den Alltag aller Bevölkerungsschichten direkt tangierten – und wie sie nicht zuletzt auch die Schuhmode prägten.

 

Dieser reich bebilderte historische Rückblick auf den Schweizer Schuhmarkt zeigt exemplarisch, dass Märkte nur als komplexe, historisch gewachsene und sich dynamisch verändernde Mechanismen beschrieben und verstanden werden können. Das Spiel von Angebot und Nachfrage beim Alltagsgegenstand Schuh in den Jahren 1918 bis 1948 und die damit verbundenen Kontroversen und Konflikte sind symptomatisch und tragen zum besseren Verständnis dringlicher Gegenwartsfragen bei.
«Ich bin der merkwürdigen Ansicht, dass die grundlegendsten Fragen anhand von Schuhwaren gestellt werden können – darum sind Schuster wohl so häufig philosophische Menschen.» H.G. WELLS, IN THIS MISERY OF BOOTS, 1908

 

Im Verlauf des Ersten Weltkriegs änderten sich die Regeln von Herstellung, Vertrieb und Verzehr von Gütern grundlegend. Kriegswirtschaftliche Blockaden und Lieferengpässe bedeuteten auch in der kriegsverschonten Schweiz Mangel und Armut. Ab Sommer 1917 konnten sich nur noch wenige Leute neue Schuhe leisten, daher brachte man die ausgetragenen Schuhe zum Reparaturschuhmacher. Zeitungen berichteten von Schülern, die mangels verfüg- oder bezahlbarer Schuhe barfuss gehen mussten. Nicht nur aus Not, sondern auch «aus Protest gegen die Unterversorgung» wurde auf Schuhe verzichtet. Im Ausland avancierte das Weglassen der Fussbekleidung zu einem politischen Symbol, das auf Missstände aufmerksam machte. Vor diesem Hintergrund ordnete das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement im Herbst 1917 die Volksschuh-Aktion an. Mit der gemeinwirtschaftlichen Herstellung eines ledernen Preisregulators wollte es Preissteigerungen auf dem Schuhmarkt unterbinden und verdächtige Personen in die Schranken weisen. So gut sich die Aktion in der Theorie ausnahm, so kläglich scheiterte sie in der Praxis.

 

 

Kulturgut Schuh
Auch nach dem Ersten Weltkrieg standen Schuhe weiter im Fokus. Am vermeintlich trivialen Alltagsding entzündeten sich künstlerische Dispute, politische Auseinandersetzungen und ökonomische Kontroversen. Während Statistiker und Ökonomen Schuhe dem «Existenzverbrauch» zurechneten, stuften Behörden und Armeeführung sie als «kriegsrelevant» ein. Nach Auffassung vieler Schuhmacher und Schuhhändler glich die lederne Umhüllung des Fusses einer «zweiten Haut». Dass sich die soziale und kulturelle Zugehörigkeit der Trägerinnen an der Fussbekleidung ablesen lasse, war eine Binsenweisheit. Die gesellschaftliche Relevanz des Schuhs strich 1944 auch der Direktor der Bally-Schuhfabriken heraus: «Er zählt vornehmlich zu den Artikeln, die wir soziale Produkte nennen. Ohne Schuhe können wir in unserem Klima und mit unseren Lebensgewohnheiten und Pflichten nicht auskommen. Arm und reich, der einfachste Arbeiter und die eleganteste Dame brauchen Schuhe. Der Schuh als soziales Produkt untersteht somit der wachen Kritik des Verbrauchers, seine Detaillierung, seine Preise werden, wie etwa beim Brot und der Milch, vom Publikum mit wachen Sinnen verfolgt».

 

 

Intransparentes Marktgeschehen
Als undurchsichtig war indes gerade das Spiel von Angebot und Nachfrage nach Schuhen. Der schweizerische Schuhmarkt war in der Zwischenkriegszeit «eine soziale Institution, die niemand im Detail kannte, um deren Gestaltung sich niemand aktiv kümmerte und deren Überwachung niemand direkt verantwortete». Um am tagtäglichen Marktgeschehen teilnehmen zu können, griffen die Konsumentinnen und Bundesbeamten auf behelfsmässige Routinen und Instrumente zurück.

Zu Beginn der 1920er-Jahre kam auch die Mode ins Spiel. Der Rocksaum verkürzte sich, wodurch der Frauenschuh sichtbarer wurde. Die veränderte Silhouette griff die Schuhindustrie dankbar auf und liess der materiellen Gestaltung und semantischen Modellierung der Fussbekleidung grössere Aufmerksamkeit zuteil werden. Von Saison zu Saison kreierte sie eine Fülle an Schnitten, Materialien und Farben. Schuhe fanden jedoch nur mehr Absatz, wenn sie gleichzeitig preiswert und moderichtig waren. Zum Ärger nicht weniger Teilnehmer und Beobachterinnen näherte sich der Schuhmarkt einem Modemarkt mit unberechenbaren Gewinn- und Verlustausschlägen an.

 

 

Panorama der Marktakteure
Um das Marktwissen in Aktion identifizieren und analysieren zu können, hat sich der Autor «gegen eine chronologisch angelegte Erzählweise entschieden». Stattdessen porträtiert Roman Wild die zentralen Akteure des schweizerischen Schuhmarktes in fünf abgeschlossenen Kapiteln. Er beginnt im Kapitel ‹Marktverlierer› mit den von vielen Seiten totgesagten Schuhmachern und Schuhhändlern. Anschliessend wird der zum internationalen Vorzeigeunternehmen aufgestiegene Schuhkonzern C. F. Bally AG thematisiert. Im Kapitel ‹Marktverantwortung› werden Hausfrauen, die sich mit dem richtigen, das heisst ökonomisch und sozial gerechten Schuhkauf auseinandersetzten, unter die Lupe genommen. Den Sekretären der Berufsverbände, die in der Zwischenkriegszeit die gesetzlichen Regulierungen verantworteten, gehört ein weiteres Kapitel. Welche schuhmarktspezifischen Lernprozesse von Wirtschaftswissenschaftlern aufgenommen wurden, erörtert das sechste Kapitel ‹Markterfahrung›. Im abschliessenden ‹Rundblick› werden die behandelten Akteure miteinander in Verbindung gebracht.

 

 

Roman Wild, *1985, ist Historiker und Hochschuldozent. Nach dem Studium der Allgemeinen Geschichte, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie war er von 2011 bis 2015 als wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Zürich tätig. Seit 2015 forscht und lehrt er an der Hochschule Luzern Design & Kunst. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Textil- und Lederindustrie, die Wissensgeschichte ökonomischer Praktiken und die Geschichte der Schweiz im 20.Jahrhundert.

 

 

Roman Wild

Auf Schritt und Tritt

Der schweizerische Schuhmarkt 1918-1948

NZZ Libro Verlag, Zürich 2019

476 S., 18 Tabellen, 91 Abb., Format 17.5×24.5 cm
CHF 49.
ISBN: 978-3-03810-406-3

 

 

 

 

«Wellness in Sils: 111 Jahre Waldhaus Sils»

 

Kenner wissen, dass das Grand Budapest Hotel des Filmregisseurs Wes Anderson ein Pendant in der Realität hat: das Hotel Waldhaus Sils. Als eine Ikone der Schweizer Hotellerie, hoch über dem Dorf Sils thronend, überblickt es die bezaubernde Landschaft der Oberengadiner Seen und ihrer Wälder.

 

Der besondere Charme des Hauses zeigt sich nicht nur in der einzigartigen Kombination von Belle-Époque-Architektur mit zeitgenössischem Komfort, sondern auch und vor allem in der Tatsache, dass das Haus seit seiner glanzvollen Eröffnung 1908 ein Familienbetrieb geblieben ist.
111 Jahre Hotel Waldhaus Sils spannt den Bogen über mehr als ein Jahrhundert im «Leben» eines Hotels, mit all seinen kleinen und grossen Geschichten, die sich darin abgespielt haben. Kurze Essays über die Historie des Hotels, Porträts einiger Mitglieder der Besitzerfamilie und Gespräche mit Persönlichkeiten, die sie gut kannten, werden von historischen und aktuellen Fotografien begleitet. Das Buch bietet somit einen faszinierenden Einblick in ein Haus, in dem die Hoteliers und ihre Gäste gemeinsam eine einmalige Verbindung von Luxus und Bescheidenheit, historischer Grandeur und spielerischem Humor sowie unauffälliger Professionalität und unerwartetem Eigensinn geschaffen haben.

(Siehe auch den Beitrag im Archiv Literatur & Kunst, 79/09 2016 über das Engadin und das Waldhaus Sils).

 

 

 

Urs Kienberger

111 Jahre Hotel Waldhaus Sils

Geschichte und Geschichten zu einem

unvernünftigen Familientraum

Texte von Rolf Kienberger, Fotos Stefan Pielow

Scheideger & Spiess, Zürich 2019

343 S.,CHF 49.

ISBN 978-3-85881-634-4

 

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