FRONTPAGE

«Brotzeit mit Putten und Prälaten»

Von Ingrid Schindler

 

Eine Reise ins bukolische Pfaffenwinkel, ein Stück barockes Bilderbuchbayern, 300 km von Zürich entfernt. Warum in die Ferne schweifen, wo das Fremde ist so nah? Im Südwesten Münchens befindet sich der wunderliche Pfaffenwinkel, das Land der Putten und Prälaten.

 

«Pfaffen nannte man früher die Klosterbrüder. Im 18. Jahrhundert, als der Begriff auftauchte, war er nicht negativ besetzt», erklärt Pfarrer Bäuerle aus Steingaden. Der Klerus hatte den wasserreichen Landstrich rund ein Jahrtausend fest im Griff. Dennoch ist er nicht das Bayern Benedikts. Nirgends äusserst sich der rokokohafte Rausch der Farben und Formen in der Baukunst stärker und paart er sich mit der barocken Lebensfreude der Bayern und der Braukunst der Brüder ausgeprägter als hier. Nicht nur Kirchenmänner, auch Könige und Künstler zog die ländliche Idylle zwischen Loisach und Lech an. Ergo erschliesst sie sich am besten gemächlich mit Genuss: von Kloster zu Kloster und Biergarten zu Biergarten. Von beidem hat es mehr als genug. Auch an Rad- und Fernwanderwegen fehlt es nicht, wie der König-Ludwig-Weg, der München mit Neuschwanstein verbindet, oder der Prälatenweg, der ein Barockkleinod ans andere reiht, der Lech-Höhenweg oder der brandneue Meditativen Wanderweg, der von Steingaden nach Linderhof im Oberammergau führt.

 

Nachdem sich im tiefen Wald im Osten von Steingaden Prälaten-, Königs- und bayerischer Jakobsweg kreuzen, geht es bald über Bretter durch malerisches Moor. Mehlprimeln, Trollblumen, Erika und Wollgras gedeihen zwischen Kiefern und Birken im Filz, wie die Bayern sagen. Am Ende des «Brettleswegs» weitet sich der Blick: Sieben einsame Häuser stehen auf der grünen Wiese und eine gottverlassene Kirche nebendran. 30 Einwohner zählt der Weiler – nachts. Tagsüber ist er ein stilles Örtchen nicht, denn, wie Mesmer Antoni Riedel sagt, «im Sommer kommen bis zu Zehntausend Touristen am Tag, vor allem, wenn es regnet.»

 

 

Putten und Posaunen


Die UNESCO hat die «Wallfahrtskirche zum gegeisselten Heiland auf der Wies» zum Weltkulturerbe erklärt. Sie verkörpert den bayerischen Rokoko in Reinkultur und geht auf ein Wunder zurück. Eine frühere Wieshofbäuerin hatte sich eine Christusfigur aus dem Welfenmünster von Steingaden geliehen. «Sie war schäbig aus verschiedenen Hölzern zusammengebastelt, weshalb ihn die Steingadener Domherren auf dem Dachboden entsorgt hatten», erzählt Riedel. Am 14.6.1738 beobachtete die Bäuerin, dass der hässliche Heiland aus Steingaden weinte. Das «Tränenwunder» nahmen die Domherren zum Anlass, eine Kapelle zu errichten und sieben Jahre später den Grundstein zur berühmtesten Wallfahrtskirche Bayerns zu legen. «Der Bau verschlang den Gegenwert von 9000 Kühen», so Riedel. Für echten Marmor und Stuck reichte das Budget nicht. Die Gebrüder Dominikus und Johan Baptist Zimmermann, der eine Baumeister, der andere Maler und Stuckateur, gaben ihr Bestes: scheinbar vergoldete Marmorsäulen und -stuckaturen sind aus bemaltem Holz, vieles ist Attrappe und Trompe-l’oeil. Doch insgesamt bringt es die Kirche mit 342 Engeln, Erzengeln und Putten auf stattliche himmlische Heerscharen. Die Akustik ist überragend, die Lichtregie ausgefeilt, die Ambiance grandios, kurz, der ideale Rahmen für Haydns Te Deum oder Beethovens 9. Symphonie, die u.a. im Juli auf dem Programm standen. Im Rahmen diverser Konzertreihen finden auch in anderen Klöstern festliche Konzerte statt, z.B. im Tassilosaal in Wessobrunn oder in der Rokokobibliothek in Polling. Musik spielte auch in Rottenbuch, der schärfsten Konkurrentin der Wies in Sachen Rokokoästhetik, eine grosse Rolle: Aus der Musikschule des Augustinerklosters ging die Oberammergauer Passionsmusik hervor.

 

Pauken und bittere Pillen

Mit einem Paukenschlag anderer Art setzte 1802/03 die Säkularisierung in Bayern ein. Tausendjährige Klöster wie Rottenbuch, Wessobrunn, Polling oder Steingaden fielen ihr zum Opfer. «Das ursprünglich romanische Welfenmünster in Steingaden liest sich wie ein aufgeschlagenes Buch der sakralen Kunstgeschichte. Es wurde gotisiert, barockisiert, rokokoisiert, ausgeplündert und modernisiert», sagt Gerhard Klein. Vielleicht, weil wir aus der Schweiz kommen, erzählt der pensionierte Lehrer von den Heuschrecken aus Aarau: «Den Auftrag zum Ausweiden und Abbruch der Klöster erhielten Schweizer Textilfabrikanten. Man hoffte insgeheim auf den Aufbau einer Textilindustrie.» Weit gefehlt, stattdessen veranstalteten die Meyers aus Aarau «die reinsten Abbruchorgien, alles wurde zu Geld gemacht, die gesamten Pfarrkirche bis auf den letzten Kandelaber, inklusive Orgel und Altar verramscht».
«In Polling war es nicht anders.» Kreisarchivar Max Biller holt aus: «Die Pollinger Äbte waren geschäftstüchtig und bildungsbeflissen. Die Klosterkirche besitzt zahlreiche Seitenkapellen, um möglichst viele einträgliche Messen für Wallfahrer lesen zu können. Ein reger Ablasshandel generierte ebenfalls gute Einkünfte. Ganze Dörfer wurden ihnen damals im Gegenzug für Sündenerlasse geschenkt.» Zudem sicherten das klösterliche Brauhaus, Gymnasium und die Apotheke den Brüdern ein gutes Auskommen, trotz der hohen Klosterdichte in der Region. «Die Pollinger Klosterpillen schätzt man noch heute – sie helfen gegen alles und vieles», lacht Biller.
Nun kommt er auf den Punkt: «Die Äbte konnten die Mönche bis nach Bologna und Paris zum Abschreiben kostbarer Folianten entsenden. 80’000 Bände befanden sich bei Beginn der Säkularisation in der Klosterbibliothek. Nur ein Drittel überlebte. Pfützen wurden mit den wertvollen Folianten ausgelegt, damit die Säkularisationsbeamten bei der Aufhebung des Klosters trockenen Fusses durch das Dorf schreiten konnten.»

 

 

Bohème und Badeseen


Kleiner Trost, dass Thomas Mann Polling alias Pfeifferling als «Ort mit Atmosphäre» im «Doktor Faustus» verewigte. Der Literaturnobelpreisträger kannte die Gegend bestens. Seine Mutter zog nach dem Tod des Vaters mit der Familie hierher. Wie Thomas Mann verbrachten viele Künstler die Sommerfrische im Pfaffenwinkel. Vor allem die Seen und romantischen Moorweiher lockten Lebens-Künstler an. Eine Münchner Malergruppe um Carl Spitzweg, die in Polling rauschende Feste feierte, nannte sich «Pollinger Landschafter». Mitglieder des Münchner Leibl-Kreises, wie Defregger, Corinth oder Slevogt, zog es nach Bernried am Starnberger See, Franz Marc und die Blauen Reiter an den Kochelsee, Münter, Kandinsky oder Jawlensky an den Staffelsee. Heute hat fast jedes Dorf seine Galerien und Ateliers.

Bernried hat sich zum Zentrum expressionistischer und naiver Kunst entwickelt, seit Lothar Günther Buchheims, Autor des «Boots», dort sein bedeutendes Museum errichtet hat. Der mehrmals als schönstes Dorf Deutschlands ausgezeichnete Ort besitzt, natürlich, auch eine Klosterkirche mit der bekannten Vergangenheit und einem Theatrum Sacrum, in dem der Heiland im Altar zeitweise erscheint. Theatralischer geht es jedoch an Maria Himmelfahrt (15. August) zu, wenn Kerzenlicht das Dorf erhellt und eine lange Prozession nach dem Eindunkeln zum See hinunter zieht. Am Ufer kann man übrigens weit entlangspazieren; trotz der vielen, schönen Landhäuser mit bunten Bauerngärten besitzt Bernried einen 7,5 km langen, unverbauten Uferweg und einen einmaligen romantischen Englischen Landschaftspark dazu. Apropos Romantik: Zur Roseninsel, auf der sich Sissy und Ludwig II. heimlich trafen, ist es auch nicht weit.

 

 

Biergarten und Brotzeit


Bei so viel Kultur regt sich der Appetit. Überhaupt heisst es ja in Bayern: «Brotzeit ist die schönste Zeit» und die will bei schönem Wetter im Biergarten genossen werden. Bei einer frischen Mass vom Fass und einer zünftigen Brotzeit. Der Pollinger Biergarten, einer der ältesten, oder der in Tutzing, einer der prominentesten, bieten einen guten Querschnitt dessen, was dazugehört: Spareribs, Schweinshaxe, Radi (gesalzener Rettich), Obazda, Wurstsalat und – unverzichtbar – die Brez‘n. Die Grosse von Gestern kostet in Tutzing 1,10, die Frische 3,00 Euro.
Andere Wirte, andere Resteverwertung. Neuerdings landen alte Brez‘n als sauer angemachtes Brez’nknödel-Carpaccio oder als Weisswurst-Brez‘nknödel auf dem Tisch. Die altbayerische, aufgeschmolzene Brotsuppe wäre auch eine Alternative. Bei hausgemachtem Brot, zum Wegschmeissen zu schade, kommt Susanne Lengger vom Tourismusverband Pfaffenwinkel der Dorfwirt Steidl in Bauerbach in den Sinn: In der einfachen, urigen Wirtschaft gibt es das beste weit und breit. «Dafür fahren die Münchner extra heraus. Und weil der Leberkäs ebenfalls hervorragend schmeckt, kommt der dort sogar auf das Brot statt auf die Semmel.»
Nicht nur Schweinereien markieren die bayerische Küche. Auch die Seen und Flüsse tragen das ihre dazu bei. Frische oder geräucherte Renken zum Beispiel. Aus Renken machte man früher den berühmten Steckerlfisch. Der besteht nach Fliegenfischer Klement Sesar heute kaum mehr aus den edlen, einheimischen Salmoniden aus dem Starnberger und Ammersee. «Die meisten Wirte grillen Makrelen aus dem Meer. Die sind auch fett genug fürs Grillen am Stecken über der Glut.»
Für den Ehrenvorsitzenden des Kreisfischereivereins Weilheim-Schongau liegt der Reiz des Pfaffenwinkels weniger in geselligen Biergärten mit Steckerlfisch und Flirtfaktor, als in den wilden Schluchten der Bäche und Flüsse. «In der Ammer oder im Lech am Morgen Forellen fangen und sie am Mittag beim Mooserwirt in Dillach frisch gebraten essen, das ist ein besonderer Genuss.» Das Gasthaus liegt einsam an einer ehemaligen Flosslände am Lech. Die wird heute nicht mehr benützt, es gibt ja keine Flösser mehr, der Fluss ist längst gestaut. Aber die stillen Filze, Feuchtwiesen und idyllischen Gewässer sind geblieben.

 

 

Information: via Tourismusverband Pfaffenwinkel, Bauerngasse 5, D-86952 Schongau, Tel. +49 (0) 8861 77 73, www.pfaffen-winkel.de

Anreise: Der Pfaffenwinkel liegt im Landkreis Weilheim-Schongau und ist via St. Gallen, Lindau über die Autobahn Lindau – München, Ausfahrt Landsberg/ Lech und weiter nach Schongau zu erreichen. Eine weitere Strecke führt von Lindau über Kempten und Marktoberdorf nach Schongau bzw. Weilheim. Mit der Bahn fährt man von Zürich nach Memmingen (in Richtung München) und steigt in Kaufbeuren bzw. Buchloe nach Marktoberdorf um, wo der Prälatenweg beginnt.

Küche: Tutzinger Biergarten in Tutzing, Gasthof Zur Post in Wildsteig, Gasthaus Steidl in Bauerbach bei Wielenbach, Schönegger Käsestüberl in Steingaden/ Schönegger Käsealm in Schönegg bei Rottenbuch (Stationen des neuen Pfaffenwinkler Milchwegs, www.pfaffenwinkler-milchweg.de), Alte Klosterwirtschaft in Polling, Kohlerhof in Prem-Gründl, Gasthaus Schweiger an der Wies, Gasthof zur Post in Wessobrunn, Gasthof zum Eibenwald in Paterzell, Gasthof Lamprecht in Peiting oder Zauberhütte in Peiting-Birkland.

Kultur: www.wieskirche.de; www.buchheimmuseum.de; www.musik-im-pfaffenwinkel.de; www.bravissimo-kultur.de, Kulturzeitung mit Veranstaltungshinweisen. Die Expressionisten um den «Blauen Reiter» und die «Brücke“»sind v.a. in Museen in Bernried, Kochel, Murnau und Penzberg stark vertreten.

 

Wie die Biergärten entstanden
1539 erliess die Bayerische Brauordnung ein folgenschweres Gesetz: Wegen der erhöhten Brandgefahr beim Sieden im Sommer wurde fortan während der künftigen Biergartensaison (vom 23. April bis 29. September) das Bierbrauen verboten. Die Brauer beugten Engpässen mit stärkerem Märzenbier vor, das sie in kühlen Eiskellern lagerten. Wegen des hohen Grundwasserspiegels auf der oberbayerischen Schotterebene reichten vor allem die Münchner Keller nicht tief hinunter, weshalb die Brauer zur besseren Kühlung Kies darüber schaufeln und Kastanien als Schattenspender darauf pflanzen liessen. Bald kamen Tische und Bänke dazu.
Die Methode hatte Erfolg, der Biergarten war geboren. Was Brauer und Volk freute, machte die Wirte wütend. Da die Biergärten bzw. -keller den Gerstensaft billig und direkt ans Volk verkauften, erlitten die Wirte starke Umsatzeinbussen. Ludwig I. fand schliesslich eine salomonische Lösung: Die Brauereien durften weiterhin Bier ausschenken, aber kein Essen mehr verkaufen. Damit wurde es noch gemütlicher für die Bayern, denn seitdem darf man Körbe voller Schmankerl, samt Teller und Tischdecke von zuhause mitbringen. Der bayerische Biergarten wurde zum weltweit einzigartigen Outdoor-Wohnzimmer.

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