FRONTPAGE

«Achille Mbembe erhält den Geschwister-Scholl-Preis»

Von Ingrid Isermann

 

Dem globalen Kapitalismus liegt eine «schwarze Vernunft» zugrunde, analysiert der afrikanische Philosoph Achille Mbembe in seinem brillanten Buch, indem er die Genese unserer Gegenwart aufzeigt, wie sich der globale Kapitalismus aus dem transatlantischen Sklavenhandel entwickelte. Mbembe wurde jüngst mit dem  Geschwister-Scholl-Preis in München ausgezeichnet.

Mit dem Abolitionismus, der Revolution in Haiti, dem Antikolonialismus oder der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung kommt zwar seit der Aufklärung eine erste globale Welle der Kritik an der Sklaverei und der «schwarzen Vernunft» des Kapitalismus auf. Dieser breitet sich jedoch in seiner neoliberalen Spielart unaufhaltsam weiter aus und überträgt die Figur des «Negers» nun auf die gesamte »subalterne Menschheit«. In diesem Prozess des «Schwarzwerdens der Welt», so die Kritik Mbembes, bilden auch Europa und seine Bürger mittlerweile nur noch eine weitere Provinz im weltumspannenden Imperium des neoliberalen Kapitalismus.
Die Dialektik der Aufklärung ist nicht vorbei

Die Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei scheint Geschichte zu sein, doch haben sich neue Formen der modernen Sklaverei entwickelt, die über die Geldströme des globalen Kapitalismus laufen. Mbembe erklärt, es gebe keine Arbeitenden als solche mehr, sondern nur noch Arbeitsnomaden. Während es gestern die Tragödie des Menschen war, vom Kapital ausgebeutet zu werden, ist es heute die Tragödie von Vielen, nicht mehr ausgebeutet werden zu können, weil sie in den Arbeitsprozessen nicht mehr gebraucht werden. Der moderne Mensch, Subjekt des Marktes und der Schulden, hält sich für ein reines Produkt des natürlichen Zufalls. Als neuroökonomisches Subjekt, getrieben von der Sorge um seine Animalität (die biologische Reproduktionen Fortpflanzung seines Lebens) und seine Dinghaftigkeit (Genuss der Güter dieser Welt), versucht dieser „Ding-Mensch“, „Maschinen-Mensch“, „Code-Mensch“, dieser im Fluss befindliche Mensch, sein Verhalten den Normen des Marktes anzupassen, und zögert dabei nicht, sich selbst und andere für die Optimierung seines Anteils am Vergnügen zu instrumentalisieren. Aufgefordert zu lebenslangem Lernen, zur Flexibilität, sozusagen zur Herrschaft des Augenblicks, muss er seine Lage als auflösbares und fungibles Subjekt hinnehmen, um der Forderung zu entsprechen, die ständig an ihn gestellt wird: ein anderer zu werden.

 

Der Neoliberalismus steht für das Zeitalter, in dem Kapitalismus und Animismus, die man lange unter Schwierigkeiten auseinanderzuhalten versuchte, dahin tendieren, eins zu werden. Da der Kreislauf des Kapitals globalisiert ist, ist das Bild zu einem Beschleunigungsfaktor der Triebenergien geworden. Die Praktiken orientieren sich am Vorbild der Sklavenlogiken des Fangens und Erbeutens, ebenso wie an den kolonialen Logiken der Besetzung und Ausbeutung, der Bürgerkriege und Raubzüge früherer Zeitalter, die gegenwärtig in den Terrorzellen islamistischer Kämpfertruppen aufscheinen. Bei den auf Besetzung zielenden Kriegen geht es nicht nur darum, den Feind aufzuspüren und zu liquidieren, sondern auch um eine Aufteilung der Zeit und eine Atomisierung des Raumes herbeizuführen. Ausserdem, so Mbembe, gehen Fangen, Erbeuten, Ausbeutung und asymmetrische Kriege einher mit der „Balkanisierung“ der Welt und einer Intensivierung von Praktiken der Einteilung in Zonen, worunter man eine bislang unbekannte Komplizenschaft zwischen dem Ökonomischen und dem Biologischen zu verstehen hat. Konkret zeige sich diese Komplizenschaft in der Militarisierung der Grenzen, in der Zerstückelung der Territorien, ihrer Aufteilung und der Schaffung mehr oder weniger autonomer Räume innerhalb eines bestehenden Staates, wie es gegenwärtig im Irak oder Syrien geschieht. Eine derartige Schaffung von Zonen geht in der Regel einher mit der transnationalen Vernetzung der Repression, einer ideologischen Gleichschaltung der Bevölkerung, dem Einsatz von Söldnern gegen lokale Guerillas, dem systematischen Einsatz von massenhafter Inhaftierung, Folter und aussergesetzlicher Hinrichtungen.
Mbembe verweist in seinem dichten Text auf die mit der Gegenwart verwobene Vergangenheit kolonialer Raubzüge, auf der Suche nach einer Zukunft des sich noch immer im Mittelpunkt der Welt wähnenden Europas, das sich weiterhin abzuschotten gedenkt, nicht erst seit den überströmenden Flüchtlingswellen, und den Traum von Homogenität und kultureller Abgrenzung nicht aufgegeben hat. Nach Mbembe kann nur ein postkolonialer Humanismus und eine grenzüberschreitende Politik des Menschseins, die Universalismus nicht gegen Differenzen ausspielt, eine mögliche Lösung der anstehenden akuten Probleme bedeuten.

 

Der 1957 geborene Mbembe zählt zu den Vordenkern des Postkolonialismus. Mbembe lehrt nach Stationen an der Columbia University, der University of California in Berkeley, der Yale University und der Duke University heute an der University of the Witwatersrand in Johannesburg.

 

36. Geschwister-Scholl-Preis für Achille Mbembe

Der kamerunische Historiker und Philosoph Achille Mbembe erhält für sein Buch «Kritik der schwarzen Vernunft» den 36. Geschwister-Scholl-Preis. Mit dem Preis wird jährlich ein Buch jüngeren Datums ausgezeichnet, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben. Der Geschwister-Scholl-Preis wird vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V. gemeinsam mit der Landeshauptstadt München vergeben. Die Verleihung fand am 30. November 2015 im Rahmen des Literaturfests München statt. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert.

 

In der Begründung der Jury heißt es: «Die Lektüre von Mbembes Buch ist bisweilen verstörend – verstörend in der Konsequenz, die der Autor in seine Argumentation bringt. Es wird dem westlichen Leser mit seinen eigenen Mitteln vorgeführt, wie die konstitutive Hierarchie zwischen dem Schwarzen und dem Menschen das letztlich europäische Konzept des Menschen ad absurdum führt … Das Buch kommt genau zur rechten Zeit: Es schärft den Blick auf eine globalisierte Weltgesellschaft, die nicht nur Waren und Kapital verschiebt, sondern auch Menschen und Arbeitskraft. Vielleicht ist dieser Hinweis auf die ›Afrikanisierung‹ der Welt auch ein Hinweis an Europa, mit seinen eigenen Versprechungen gegen die eigenen Praktiken ernst zu machen».

 

 

Achille Mbembe

Kritik der schwarzen Vernunft

Aus dem Französischen von Michael Bischoff

Suhrkamp Verlag 2014

CHF 38.50. (D) 28 €. (A) 28.80

 

 

 

 

Buchtipps 

 

 

 

«Die Rote Hüsniye – Leben für Gerechtigkeit»

 

Das abenteuerliche Leben einer mutigen Asylantin ohne Kopftuch: Ihr arabischer Vorname Hüsniye bedeutet «schön», ihr lediger Nachname «ohne Angst sein». Als alevitische Kurdin 
im Osten der Türkei geboren und aufgewachsen, gehörte Hüsniye einer Minderheit an und wurde mehrfach diskriminiert.


 

Sie begann, sich politisch zu engagieren und für die Menschenrechte zu kämpfen. Nach dem Militärputsch 1980 wurde sie über ein Jahr inhaftiert. Nach ihrer Freilassung heiratete sie und wurde Mutter eines Sohnes. Doch sie wurde überwacht und fühlte sich bedroht. Neue politische Provokationen zwangen ihren Mann, in die Schweiz zu flüchten. Er liess Frau und Sohn mit Hilfe eines Schleppers nachkommen. Hüsniye fühlte sich anfänglich fremd und unglücklich in der Schweiz. Doch Hüsniye, immer noch eine Kämpferin, hat es geschafft, sich als anerkannter Flüchtling voll zu integrieren und Schweizer Bürgerin zu werden. Sie lebt seit über 30 Jahren in Thun, das ihr zur zweiten Heimat geworden ist.

 

Die Mitautorin Barbara Traber: «Vor ungefähr zwei Jahren habe ich angefangen, Hüsniye Woche für Woche zu besuchen, und sie hat mir ihr Leben erzählt: Kindheit als alevitische Kurdin in Anatolien, Schulzeit in Erzincan/Türkei, Gefängnisaufenthalt aus politischen Gründen, Hochzeit, Geburt ihres Sohnes, Flucht (mit einem Schlepper) in die Schweiz … Wir hatten damals keine Ahnung, wie aktuell das Thema werden würde».

 

 

Barbara Traber und Hüsniye Kahraman-Korkmaz
Die Rote Hüsniye
Mein Leben für Gerechtigkeit
Weber Verlag 2015
160 Seiten, 14 x 21 cm, gebunden
CHF 29. € 29.
ISBN 978-3-03818-091-3,

 

 

 

«GEORGETTE TENTORI KLEIN – Ein Leben als Solistin»

 

So wie es bedeutende Künstlernamen gibt, die bereits zu ihren Lebzeiten berühmt sind – gibt es auch solche, die ihr ganzes Leben im Verborgenen, von Selbstzweifeln begleitet, arbeiteten und die erst später entdeckt und geschätzt werden. Zu diesen zweifelnden Einsamen gehört auch die Schweizer Künstlerin Georgette Tentori, geborene Klein (1893-1963).


Geboren in Winterthur in der Familie eines der Sulzer Direktoren, studierte sie Germanistik und Romanistik an der Universität Zürich, wo sie 1919 ihr Doktorexamen ablegte. Anschliessend nahm sie privaten Geigenunterricht bei Willem de Boer, wie auch Holzschnitzunterricht bei Carl Fischer. Die Talentierte spielte sehr bald im Orchester des Winterthurer Musikkollegiums mit. Zugleich weckte sie mit ihren gewagt modernen Textilarbeiten an Weihnachtsausstellungen im Kunstgewerbemuseum Winterthur eine rege Aufmerksamkeit. Als eine herausragende Anerkennung ihrer gestalterischen Arbeit gilt ihre Teilnahme 1925 in der Section Suisse im Grand-Palais an der internationalen Exposition des arts décoratifs in Paris.

Als Mitglied des Schweizerischen Werkbundes mit dem Direktor der Kunstgewerbeschule und des Kunstgewerbemuseums Zürich, Alfred Altherr, befreundet, welcher zugleich Vorsitzender des Werkbundes war, kam Georgette Klein unter anderem auch mit dem 1918 gegründeten Schweizerischen Marionettentheater in enge Berührung.
Ihre studentische Liebe, der später international bekannte Linguist, Fritz Bodmer (Frederick Bodmer), führte sie in die Ideenwelt des Sozialismus ein. Die frühe Feministin wirkte mit vollem Engagement 1928 an der SAFFA in Bern mit. Anschliessend übersiedelte sie ins Tessin. Das von ihr 1932 entworfene Atelierhaus im Bauhausstil am Hügel über dem Dorf Barbengo ging in die Architekturgeschichte des Kantons Tessin ein.

Einem gutbürgerlichen Haus in Winterthur entstammend, geriet das Leben der Begabten allmählich zu einem vehementen Protest. Georgette Klein wird eine akademische Laufbahn für sich definitiv verneinen. Sie verschrieb sich voll der Kunst, heiratete unstandesgemäss den kleinen Tessiner Weinbauer und Handwerker, Luigi Tentori, und baute mit ihm gemeinsam 1932 oberhalb des Tessiner Dorfes Barbengo ihr Atelierhaus Sciaredo. Dort setzte sie sich, nicht weit weg von Monte Verità entfernt, mit moderner Kunst, Theater, Philosophie, Psychologie und dem Zeitgeschehen auseinander. Sie blieb mit ihrer Lektüre, die sie laufend im Tagebuch reflektierte, am Puls der Zeit. Es überrascht nicht, dass in der umfangreichen Bibliothek der Nonkonformistin unter anderem Literatur von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus steht. Im Atelierhaus wird dreissig Jahre eifrig gewoben, Masken und Buratini geschnitzt, an Holzskulpturen in Anlehnung an Barlach gearbeitet und Lyrik gedichtet. 1939 gründet sie gemeinsam mit der Lehrerin, Schauspielerin und späteren Theaterkritikerin des Tages Anzeigers, Olga Gloor, ein Figurentheater. Um ihre sehr bescheidene Existenz zu sichern, ist sie gezwungen, das in ihrem Atelier erschaffene Werk laufend in verschiedenen auf Kunsthandwerk spezialisierten Boutiquen unter dem Sigel GEO zu veräussern.

Hana Ribi

 

 

Georgette Tentori Klein 

Ein Leben als Solistin

hrsg. von Chiara Macconi und Renata Raggi-Scala

Associazione Archivi Riuniti delle Done Ticino

Beiträge von Jachen Konz, Gisa Lang, Hana Ribi, Brigitte Stadler, Annelise Zwez

Elster Verlag, 2014.  222 S., deutsch-italienisch, zahlreiche Abbildungen

CHF 30. € 30.

ISBN 978-3-906065-24-3 ;

 

Künstler Residenz Fondazione Sciaredo
https://fondazione-sciaredo.ch/web/

 

 

 

 

 

 

 

 

 

«MARTEN TOONDER –  PLATTWALZER»
Eine Bommel-Erzählung aus dem Niederländischen
von Jacqueline Crevoisier

 

«Meine Nerven sind ganz schön fertig mit mir. Ich bin mit ihnen herunter, falls Sie verstehen, was ich meine». Aufschreie dieser Art können sich nur aus dem reichen Innenleben eines Herrn von Stand gelöst haben und zwar dem von Herrn OLIVIER B. BOMMEL, dem gezeichneten Bären in grobkariertem Jackett.

Sein geistiger Vater ist der niederländische Autor/Zeichner MARTEN TOONDER (1912 – 2005), der mit dieser Figur eine Form von Literatur und Zeichenkunst geschaffen hat, die einmalig ist und in Holland grosse Erfolge feiert. Sprachgelehrte versuchen in Dissertationen dem Geheimnis des Phänomens Marten Toonder auf den Grund zu gehen. Seine verqueren, funkelnden Sprachschöpfungen sind literarische Kostbarkeiten, die regelmässig den Weg in die Alltagssprache fanden. Sein Werk galt daher auch lange Zeit als ins Deutsche unübertragbar.

In dieser Erzählung – «PLATTWALZER» – geht es um Gleichmacherei. Ein neues Denken kommt auf. Wer sich ihm nicht unterwirft, wird plattgewalzt. Gearbeitet wird mit der Taktik des Verunsicherns, Gerüchte werden verbreitet, Zwietracht gesät. Die Kleinstadt Hammelburg gerät aus ihren Fugen. Doch Gleichmacherei ist nichts für einen Herrn von Stand. Er bietet Widerstand.
Diese Parabel auf Mobbing, Desinformation und Intoleranz zwischen Kulturen könnte nicht zeitgemäßer erzählt sein. Wie in all seinen Bommel-Erzählungen übt der Autor Gesellschaftskritik, verspielt und ohne Holzhammer. Seine Themen bleiben unverwüstlich aktuell.
Marten Toonder hat für sein umfangreiches Werk verschiedene wichtige Auszeichnungen erhalten, u.a. ehrte ihn die Erasmusuniversiät in Rotterdam, indem sie ihm den ersten Teil des ins Niederländisch übersetzten Gesamtwerks von C.G. Jung überreichte als Würdigung seiner tiefenpsychologisch fundierten und gleichzeitig spielerischen Umsetzung des Kräftespiels Bewusstsein/Unterbewusstsein. Jacqueline Crevoisier

 

Jacqueline Crevoisier wurde für den «Europäischen Übersetzerpreis Offenburg 2016» nominiert.

 

 

Marten Toonder

Plattwalzer

übersetzt von Jacqueline Crevoisier ins Deutsche

Personalia Verlag, Leens  (NL), 2014

84 S., Hardcover

€ 22.50     CHF  25.

ISBN  978 90 7928738 3

 

 

 

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