FRONTPAGE

«Herzvirus. Ein Feuer im Garten. Immer das Geld. Urknall»

Von Ingrid Isermann

Ein mutiges Buch: «Herzvirus» ist eine berührende Hommage zwischen Zartheit und tiefem Schmerz. Eine Heranwachsenden erlebt, wie sich ihre Mutter in den Fängen einer seelischen Erkrankung verstrickt und immer weiter von der realen Welt entfernt.

Dieser Roman ist auch die Geschichte der Autorin Bettina Spoerri, die mit über dreissig Jahren Abstand nochmals einen Annäherungsversuch an diese prägenden Kindheitserfahrungen und ihre damals entschwundene Mutter wagt. Es braucht Mut, sich zu erinnern, aber es braucht auch Mut, es zu lesen.

Von der Autorin an ihrer Lesung im Volkshaus Zürich am 8. März und von den Leserinnen und Lesern, die das Buch in ihren Bann schlägt. Es ist eine akribische Beschreibung: «Es ist Literatur, es ist Kunst», sagt Bettina Spoerri, und so hat sie sich ihrem Lebensthema genähert, es von allen Seiten betrachtet, bis es wie es wie ein Kristall in ihrer Hand lag, der funkelte und die düsteren Bilder überstrahlte.

 

«A woman under Influence»

In feinfühlig erzählten Erinnerungsbildern entwickelt sich das Drama des Lebens einer unkonventionellen Frau, die mit ihren Fantasien an den Rändern der Wirklichkeit lebt, ängstlich beobachtet und zugleich bewundert von ihrer Tochter. Sie wächst mit einer Mutter auf, die als alleinstehende Frau mit drei Kindern vieles auf ihre ganz eigene Weise tut, mit Konventionen bricht, in einer eigenen Welt mit Büchern, Musik und Filmen lebt, aber in zwanghaften Gedanken Briefkästen sprengt oder andere Menschen zu vergiften meint – bis zu dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Psychiatrie ist auch heute noch vielfach eine Tabuzone. So real äussere Bedrohungen geschildert werden, so surreal erscheinen die bipolaren Störungen, die, wie auch die Rolle des jüdischen Vaters in der Kindheitserinnerung der Autorin, schemenhaft bleiben. Ursache und Wirkungen als erschütternde Kettenreaktionen einer Familiengeschichte, in denen die Ursprünge unseres Verhaltens angelegt sind.

 

«Herzvirus» zeichnet das Psychogramm einer wechselvollen Beziehung von Mutter und Tochter nach, in der Schrecken, Wahn und Freiheit nahe beieinanderliegen, die sich bisweilen nicht voneinander unterscheiden. Die 1970/80er-Jahre zwischen Aufbruch und Ernüchterung sind hier auch Spiegel innerer und äusserer Umwälzungen durch die Musik, die Literatur, die Unruhen auf den Strassen, die reale Bedrohung durch Umweltkatastrophen wie Tschernobyl und Schweizerhalle. Ein sehr lesenswertes Buch!

 

 

Bettina Spoerri

Herzvirus

Braumüller Verlag, Wien 2016

geb. 287 S. CHF 21.90

ISBN 978-3-99200-154-5

 

 

Bettina Spoerri ist in Basel aufgewachsen, studierte in Zürich, Berlin und Paris Literaturwissenschaft, Philosophie und Musik­wissenschaft, arbeitete nach einem längeren Aufenthalt in Israel als wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und promovierte zum Thema literarische Todesdarstellungen. Sie ist Mitherausgeberin des Buches «Diskurse in die Weite».
Ihr erster Roman «Konzert für die Unerschrockenen» erschien 2013 bei Braumüller (Wien).
Bettina Spoerri arbeitet als freie Autorin, Filmkritikerin, Kulturvermittlerin und leitet das Aargauer Literaturhaus.
 

 

 

«Franz Hohler: Retrospektive an den Mann mit dem Cello»

 

Seit 50 Jahren steht Franz Hohler auf der Bühne und begeistert sein Publikum als Kabarettist, Liedermacher und Autor. Die erste Biographie von Franz Hohlers Leben und Werk verfasste der Journalist und Liedermacher Martin Hauzenberger im Zürcher Römerhof Verlag.

 

Ja, so hat man ihn kennen und lieben gelernt, mit seinem Cello, den Franz mit dem feinen Musikgehör und den Kollegen René, der nie was sagte, was er stets sagte, als beide noch im Spielhaus die Welt spiegelten. Das war für die Kleinen und die Grossen ein Gaudi, es ist schon lange her, lange vor dem Spielzeug Smartphone, aber es scheint, die Phantasie hat da noch eine grössere Rolle gespielt. Heute wissen wir ja alles, und alles besser, dank Wikipedia und Wikileaks. Und sind doch nicht schlauer geworden. Aber der Franz ist geblieben, immer wieder anders, und hilft uns auf die Sprünge, immer noch und immer wieder. Eine Biographie bringt den Menschen Franz Hohler näher und neue Publikationen, die gibt’s sowieso noch obendrauf.

In meinem Regal steht seit langem ein Buch von Franz Hohler mit Kamelen auf dem Cover, die durch die Wüste ziehen, ich gestehe, dass ich es deswegen in die Hand nahm, kaufte und neugierig auf den Inhalt mit dem phantasievollen Titel war: «Die Karawane am Boden des Milchkrugs». Groteske Geschichten (Luchterhand, 2003).

Eine andere groteske Geschichte war, dass Franz Hohler wegen seines Dienstverweigerer-Lieds vom Schweizer Fernsehen suspendiert wurde. Immer wieder hat Franz Hohler zu aktuellen Zeitfragen Stellung genommen und sich nicht gescheut, zu provozieren. So kennt man ihn und seine profunde Vielseitigkeit. Harmlos war er nie, auch wenn er sein „sind alli so nätt“ in die Runde schmiss, tiefgründig und doch unverkennbar menschenfreundlich.

 

Martin Hauzenberger
Franz Hohler

Der realistische Fantast
Römerhof Verlag Zürich, 2015
384 S., s/w Abb. CHF 41.90. € 38.
ISBN 978-3-905894-33-2

 

 

«Ein Feuer im Garten» – Eine Welt zum Staunen
Franz Hohlers phantasievolle Geschichten führen ihn oft in die Ferne, ob an den Arabischen Golf oder nach Teheran wie in diesem neuen Band. Gerne untersucht er aber auch seine unmittelbare Nachbarschaft, um Überraschendes am Wegrand zu erleben. Der Kurzgeschichten-Band zeigt Hohler als Autor, der mit leiser Satire, Ironie und Empathie die Brüche in der Welt wahrnimmt. Das Buch beginnt mit der Dichterin, die Kindern eine Geschichte über ein Feuer im Garten lebhaft erzählt, dass ein kleiner dreijähriger Junge so beeindruckt ist, dass er begeistert aufspringt, losläuft und nicht merkt, wie er dabei die eigentliche Geschichte versäumt. Franz Hohler hat sich selbst die Gabe zum Staunen bewahrt, beobachtet die Welt um sich herum genau, und nicht selten verwundert ihn, was er sieht, pointenreich, virtuos und fesselnd festgehalten.

 

 

Franz Hohler
Ein Feuer im Garten
Luchterhand München, 2015
Geb., 126 S., CHF 24,50
ISBN 978-3-630-87452-4

 

 

Franz Hohler wurde 1943 in Biel geboren, er lebt in Zürich-Oerlikon und ist einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller. 2002 erhielt er den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, 2005 den Kunstpreis der Stadt Zürich, 2013 den Solothurner Literaturpreis, 2014 den Alice-Salomon-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint sein über vierzig Jahren im Luchterhand Literaturverlag, München.

 

 

«Hans Magnus Enzesberger: Immer das Geld! Ein kleiner Wirtschaftsroman»

 

Ein subversiver Aufklärungskurs über Herkunft, Sinn und Wert des Geldes und unsere Art zu wirtschaften.


Hier widmet sich Hans Magnus Enzensberger einem Thema, das uns alle angeht, denn schon steht das Angebot eines bedingungslosen Grundeinkommens in der Schweiz zur Abstimmung, das die Gemüter bewegt. Enzensberger untersucht genüsslich und süffisant die vielfältigen Verbindungen einer Familie zum Geld.

 

»In der Ökonomie herrschen namenlose Götter: Zufall und Willkür». Jedes Mal, wenn Tante Fé zu Besuch kommt, gerät der stinknormale Alltag der Familie Federmann aus den Fugen. Die uralte, muntere Dame hat es nämlich faustdick hinter den Ohren. Nach ihren Erfahrungen eines langen Lebens mit Inflationen, Erbschaften und Pleiten, mit Armut, Verschwendung und Exil ist sie jetzt reich und lebt allein in ihrer Villa am Genfer See.

 

Was aber will Tante Fé von den Federmanns, ihren einzigen Verwandten? Langweilen möchte sie sich auf keinen Fall. Deshalb lädt sie die drei Federmann-Kinder in ein Luxushotel ein, verwöhnt, verblüfft und begeistert sie. Endlich fühlen sie sich ernstgenommen, erhalten Antworten auf Fragen wie: Woher kommt das Geld? Warum reichen selbst Milliarden und Billionen nie? Was denkt sich eine Zentralbank dabei, wenn sie Schulden druckt? Warum geht es nirgends ohne Schattenwirtschaft, ohne Schwarzmarkt, Schwarzgeld und Schwarzarbeit? Und warum hagelt es immerzu fette Boni in der Chefetage? 
Tante Fé räumt mit dem Blabla der Börsianer gründlich auf.

 

Ungerührt erklärt sie den Kindern das herrschende Betriebssystem der Gier und der Angst. Natürlich hat auch sie keine Patentrezepte zu bieten. Aber den Sieben- bis Siebzigjährigen, die den Jargon der Betriebswirtschaftler satt haben, könnte ihr gutgelauntes Fitness-Training nicht schaden – und auch nicht ihre spezielle Gegenstrategie: «Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt».

 

 

Hans-Magnus Enzensberger

Immer das Geld! 

Ein kleiner Wirtschaftsroman
Inszeniert von Franz Greno

Suhrkamp, 2015

geb., 213 S.,

CHF 32,90. 22,95 €. 
23,60 € 
(A).


ISBN: 978-3-518-42489-6

 

 

«Gottfried Schatz: Urknall, Sternenasche und ein Fragezeichen»

Essays zu Kultur und Wissenschaft

Die letzten Schätze des herausragenden Wissenschaftlers, Künstlers und Wissensvermittlers Gottfried Schatz († 2015) über die Rätsel, Aufgaben und inneren Bedrohungen der Naturwissenschaften. Wie immer bestechend leicht und leidenschaftlich erklärt.

 

 

«Vor dem Urknall steht ein Fragezeichen, das sich der Wissenschaft entzieht. Wer in diesem Fragezeichen einen göttlichen Schöpfer sieht, hat das Fragezeichen für sich beantwortet. Mir jedoch genügt das Fragezeichen. Wahrscheinlich könnte ich die Antwort darauf nicht begreifen – und wenn ich es könnte, lehrt mich die Wissenschaft, dass jede Antwort nur eine neue Frage aufwirft. Wissenschaft fordert Bescheidenheit». Gottfried Schatz.

 

Hat unser Leben einen Sinn? Wie lässt er sich finden? Und können die Naturwissenschaften uns bei der Suche den Weg weisen? Von der Antike bis zur Neuzeit versuchte man, die Existenz Gottes und damit auch den Sinn menschlichen Lebens wissenschaftlich zu beweisen. Vor viereinhalb Jahrhunderten galt die Erde als Mittelpunkt des Universums. Und noch vor etwas mehr als einem Jahrhundert glaubten viele, die Natur, und mit ihr die Menschheit, strebe dem Ziel höchster Vollkommenheit zu. Das erschien als ein Beweis für die ordnende Hand Gottes, der uns Menschen als Krone der Schöpfung erwählt hat, so Gottfried Schatz.

Heute ist von all dem nicht viel übrig geblieben. Wir haben eingesehen, dass es einen wissenschaftlichen Gottesbeweis nie geben wird. Im Jahre 1858 verkündete Charles Darwin, dass die Entwicklung des Lebens ein blinder Prozess ist, in dem neuartige Lebensformen durch zufällige Variation durch die Umwelt entstehen. Vor etwa 80 Jahren erkannten Astronomen, dass unser Universum vor Milliarden von Jahren durch die Explosion eines unendlich kleinen Energiepunktes im sogenannten Urknall entstand und sich immer noch ausdehnt. Das naturwissenschaftliche Weltbild des 21. Jahrhunderts zeigt uns ein Universum voller Rätsel, in dem lebendige Materie eine fast unfassbar kostbare Ausnahme ist.

Gottfried Schatz gelingt es wiederum in diesem spannenden Essayband, unfassbar komplexe Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen, das Geheimnis der Materie, den Ursprung unseres Lebens und das Wunder unserer Existenz  zu beleuchten.

 

 

Gottfried Schatz

Urknall, Sternenasche und ein Fragezeichen

NZZ Libro Verlag, 2016

geb., 118 S.

CHF 32.

ISBN 978-3-03810-160-4

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