FRONTPAGE

«Colum McCann: Transatlantik»

Von Ingrid Isermann

«Transatlantik» des irischen Schriftstellers Colum McCann verwebt drei ikonische historische Momente mit dem Schicksal dreier Frauen. Ein kraftvolles Epos über die Kollision der Geschichte und persönlichem Schicksal, geschrieben mit dichterischer Intensität, leuchtenden Szenarien und klingender Sprache. Ferner: «Panischer Frühling», ein neues Werk der Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger. «Milano Centrale» von Georgia Avanti.

 

Mitunter kann schon ein Cover dazu verführen, ein Buch in die Hand zu nehmen. Umsomehr, wenn es genau das Buch ist, das im mitunter langfädigen «Literaturclub» in seltener Einmütigkeit gelobt wurde, sodass da doch etwas dran sein muss, sagt sich die geneigte Leserin. Und mitunter begegnen einem Bücher, die sich lesen, wie von leichter Hand geschrieben, wie wenn es das Natürlichste der Welt ist, dass sie da sind und als ob es sie schon immer gegeben hätte, wie eben «Transatlantik» von Colum McCann. Mit Geschichten, so ineinander verflochten, dass man nicht aufhören kann zu lesen.
Im Roman Colum McCanns  geht es um den ersten Nonstop-Transatlantikflug 1919. Die beiden Flieger Jack Alcock und Arthur Brown unternehmen das Abenteuer des Nonstopflugs von Neufundland über den Atlantik mit Kurs Irland, so eindrücklich geschildert, als ob wir daran teilnehmen würden, wie das schwankende Flugzeug in 300 Metern Höhe übers Meer in die Lüfte steigt und steigt.

 

«Zum ersten Mal seit Stunden fliegen sie nicht durch Nebel oder Wolkenschichten. Zäh und stumpfgrau hängt der Himmel über dem Meer. Brown stellt die letzten Berechnungen an. Sie sind nach Norden abgewichen, aber nicht so sehr, dass sie Irland ganz verfehlen könnten. Brown schätzt, dass sie einen Kurs von 125 Grad fliegen müssten, aber unter Berücksichtigung von Abweichung und Wind legt er einen Kurs von 170 Grad an. Nach Süden. Er spürt, wie es in ihm aufsteigt: der Anblick von Wiesen, am Horizont ein einsam gelegenes Bauernhaus, vielleicht ein paar dichtgedrängte Kühe. Sie müssen vorsichtig sein. Entlang der Küste gibt es hohe Klippen. Er hat sich mit der Geographie Irlands beschäftigt: die Hügel, die Rundtürme, die Kalksteinfelsen, die periodischen Seen. Die Bucht von Galway. Im Krieg hat er Lieder darüber gehört. Über die Strassen nach Tipperary. Die Iren waren schon immer sentimental. Sie tranken und starben in grosser Zahl. Ein paar auch für das britische Empire. Sie tranken und starben. Sie starben. Sie tranken.

Er verschliesst die Thermosflasche mit warmem Tee, als er Alcocks Hand auf der Schulter spürt. Noch bevor er aufsteht, weiss er, dass es in Sicht ist. Ganz einfach. Es erhebt sich aus dem Meer, so nonchalant wie nur was: nasse Felsen, dunkles Gras, Stein, Baum, Licht.

Zwei Inseln. Die Vimy fliegt tief über das Land.

Ein Schaf mit einer Elster auf dem Rücken. Es hebt den Kopf und beginnt zu rennen, als das Flugzeug sich nähert, und für einen Augenblick bleibt die Elster sitzen. Der Anblick ist so seltsam, dass Brown ihn sein Leben lang nicht vergisst».


Dublin, 1845: Der amerikanische Abolitionist Frederick Douglass reist durch das von Hungersnot gepeinigte Irland, wo die Leute schlimmer leiden als unter der Sklaverei. Die langwierigen Friedensverhandlungen im Nordirland-Konflikt und der Kampf gegen die Sklaverei in den USA sind bewegende Themen, auch, dass echte, historische Figuren auftreten, gehört zu McCanns Repertoire.

 

 

Ein freier Mann 1845-1846

«Er hatte sich Dublin ganz anders vorgestellt. Er hatte Rotunden, Kolonnaden und stille Kapellen an Strassenecken erwartet. Säulen, Portale, Kuppeln. 

«Mister! He, Mister! Sind Sie aus Afrika?»

Er zögerte einen Augenblick. Diese Frage hatte man ihm noch nie gestellt. Sein Lächeln gefror.

«Nein, aus Amerika», sagte er.

(…) In seinen Gedanken geschah eine Lockerung. Allein schon, dass er nicht mehr verfolgt wurde, dass er nicht mehr ständig über die Schulter sehen musste, dass man ihn nicht verschleppen konnte.

Hin und wieder muss ich innehalten und mir verblüfft vergegenwärtigen, dass ich nicht mehr auf der Flucht bin. Mein Geist ist frei. Sie können mich nicht mehr zur Auktion anbieten, sie können es sich nicht einmal vorstellen. Ich brauche das Klirren der Ketten, den Knall der Peitsche, das Öffnen der Tür nicht mehr zu fürchten».

 

 

New York, 1998

US-Senator George Mitchell verlässt seine junge Frau und sein erst wenige Tage altes Baby, um in Belfast die nordirischen Friedensgespräche zu einem unsicheren Abschluss zu bringen.

 

«Am einen Ende des Decks stand aneinandergeschmiegt ein junges Pärchen. Die beiden sprachen Russisch miteinander. Vielleicht eine Hochzeitsreise. Ich zog an Georgies Leine und ging ein Stück weiter, wo eine Familie aus Portavogie Sandwiches und eine Thermosflasche voll Tee auspackte. Vater, Mutter und sechs Kinder. Sie boten Georgie kleine Stücke von ihren Sandwiches an und kraulten sie am Hals. Sie sagten, sie seien unterwegs nach Süden, wegen des Besuchs der Königin. Ich war nicht auf dem Laufenden, ich hielt mich recht fern von den Gedanken, die die Welt über sich selbst denkt. Seit Monaten hatte ich keine Zeitung gelesen. Kein Fernsehen. Das Radio war auf einen Klassiksender eingestellt.

«Die englische Königin persönlich», sagte die Mutter strahlend – als gäbe es vielleicht noch einige Kopien dieser Monarchin. Ihre Zunge war von etwas Lagerbier gelöst. Sie sagte, in derselben Woche werde auch Präsident Obama kommen. Seltsames Zusammentreffen. Aber für mich spielte es kaum eine Rolle: Ich musste nur meinen Brief verkaufen.

Die Fähre legte an jenseitigen Ufer an. Über uns kreisten Möwen. Ich verabschiedete mich von der Familie und schob Georgie wieder in den Wagen.

(…) Ich schaltete das Radio ein. Alles drehte sich um den Besuch der Königin und die Sicherheitsmassnahmen. Dass Obama eine Kugel abkriegen könnte, schien sie weit weniger zu besorgen. Unsere komplexe Geschichte. Wahrhaftig eine der inneren Kolonisation. Ich wechselte den Sender. Je weiter ich nach Süden kam, desto dichter wurde der Verkehr. Ich hatte von Belfast hierher bereits vier Stunden gebraucht, hauptsächlich wegen Georgies Blasenproblem. Alle dreissig Kilometer musste ich anhalten und sie hinauslassen. Ihr gefiel diese Reise gar nicht. Sie sass auf dem Rücksitz und jaulte, bis ich sie schliesslich vorn sitzen liess, wo sie den Kopf zum Seitenfenster hinausstrecken konnte.

Am frühen Abend erreichte ich die Aussenbezirke von Dublin».


Das Leben dreier Frauen widerspiegelt den Verlauf der bewegten Nationalgeschichte Irlands und Amerikas, angefangen bei der irischen Hausmagd Lily Duggan, in der Frederick Douglass die Liebe zur Freiheit weckt, folgt der Roman ihrer Tochter Emily und ihrer Enkelin Lottie in die USA und später zurück auf die Insel. Dabei spielt ein über drei Generationen vergessener Brief eine entscheidende Rolle. Die Geschichten entwickeln einen drehbuchartigen Sog und eine Verfilmung dieser ineinander verflochtenen Historie könnte man sich gut vorstellen.

 

 

Colum McCann
Transatlantik
Roman, übersetzt von Dirk van Gunsteren
Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 2014
381 S., Hardcover
CHF 35.90
ISBN 978-3-498-04522-7

 

 

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er war als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer tätig und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt er zahlreiche Literaturpreise, u.a. den National Book Award, den Internationalen Dublin Impac Prize, den Premio Grinzane und den Prix Deauville. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer», «Zoli» und «Die grosse Welt». Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, übersetzte u.a. Jonathan Safran Foer, Thomas Pynchon, Philip Roth, T.C. Boyle und Oliver Sacks. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.

 

 

 

«Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling»


Der Vulkanausbruch des Eyjafjallajökull auf Island, noch in unserer Erinnerung präsent, lässt den gesamten europäischen Flugverkehr mit seiner Aschewolke zum Erliegen kommen. Zehntausende Menschen stranden an den Flughäfen. Plötzlich ist alles anders. Plötzlich ist alles ganz still. Plötzlich ist die Zeit erstarrt wie in einer Zeitlupe.

 

 

Auf der London Bridge begegnet die Erzählerin, eine nicht mehr ganz junge Frau, einem jungen Mann mit einem Feuermal im Gesicht. Er heisst Jonathan und verkauft eine Obdachlosenzeitung, mit nicht gerade grossem Erfolg. Er hat eine abenteuerliche Reise hinter sich, von der Südküste Englands hierher.

 

«Jonathan schwieg. Sassen wir hier wirklich auf der London Bridge? Ich sah öde Strassen, die zum Meer abfielen, den herunterhängenden Rocksaum einer alten Frau und hörte Palmen rascheln in einem Friedhof voller Agaven. Vorsichtig warf ich einen Blick auf Jonathans aufragende Warzen. Ich rollte langsam meine Obdachlosenzeitung zusammen. Kommen Sie übermorgen am Abend, fragte Jonathan, auf die Brücke bei der Station Embankment? Mein Freund, der Steeldrummer, hat ein neues Stück, er macht mich völlig verrückt damit! Ich nickte. Ein paar Stunden danach brannten am Nachbarhaus im East End schon die Lichtgirlanden».

 

Jeden Tag treffen sie sich von nun an auf der Brücke über der Themse und allmählich werden ihre Geschichten und Geheimnisse über die Gezeiten miteinander ausgetauscht. Dann verschwindet Jonathan plötzlich und die Erzählerin macht sich auf den Weg zu ihm und zu sich selbst. Das ist anschaulich geschildert in einer kunstvollen Sprache, die innehalten lässt über die inneren und äusseren Geschehnisse.

Gertrud Leutenegger
Panischer Frühling
Suhrkamp Verlag, 2014
118 S., Hardcover
CHF 28.50. € 19.95
ISBN 978-3-518-42421-6

 

 

Gertrud Leutenegger (* 1948 in Schwyz) hat ein Regiestudium an der Schauspielakademie in Zürich absolviert und lebte mehrere Jahre in der französischen, dann in der italienischen Schweiz, heute in Zürich. 2010 wurde sie in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt berufen. Ihr Werk wurde mehrmals ausgezeichnet.

 

 

MILANO CENTRALE
Stimmungen, Gefühle, Gerüche, Farben, Menschen und Landschaften

 

Giorgio Avanti hält Szenen aus dem Alltag, aus den Ferien von unterwegs, ob Markusplatz, Guidecca, San Michele, Burano oder Como, mit farbenfrohen Bildern fest. Statt mit einer Kamera werden Momente und Erinnerungen in Worten,
 Skizzen und Bildern umkreist und einprägsam zu farbigen
 Metaphern, wie zufällig an einen Sandstrand angeschwemmte Muscheln. 
Bei der Betrachtung erklingen sie als Erinnerungen in einem leisen, fernen
 Rauschen.

 

Südliche Impressionen aus dem Tagebuch eines Fauns

ein einhorn

bin ich

schnuppre zart

füge traum um

traum und

blatt um

blatt

Georgio Avanti

Milano Centrale

Bilder und Sätze

Edition BAES, A-Zirl, 2014

160 S., Grossformat Paperback 29.7 x 21 cm

CHF 37. € 36.

ISBN: 978-3-9503559-2-5

www.edition-baes.at

www.giorgioavanti.ch

 

Georgio Avanti, *1946, ist Schriftsteller, Maler und Jurist; er lebt in Walchwil am Zuger See und Arogno im Tessin. Sein künstlerisches Werk präsentierte er in zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland.

NACH OBEN

Reportage


Buchtipp


Kolumnen/
Diverses