FRONTPAGE

«Das Wendekochbuch»

Von Hedi Wyss

 

Sie ass alles auf. Auch den Früchtekuchen, der schon etwas verfärbt schien. Und die eingetrocknete Sauce, die sie aus der Pfanne rauskratzte. Meine Mutter. Sie wird sich mal noch vergiften, sagten wir. Aber sie wurde sehr alt, und war bei Sinnen bis ins fünfundneunzigste Jahr. Als sie gestorben war, fand ich das Kochbuch, das eine entfernte Cousine ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, «Das Wendekochbuch». Mit einem Vorwort von Dr. Bircher-Benner. Für Rohkost und Fleischloses. In der Tat, wir assen nicht viel Fleisch, als wir Kinder waren. Aber eigentlich, weil es damals noch teuer war. Ich war froh darüber, denn ich mochte es nicht so sehr. Wegen der Fettränder und der Sehnen und anderer Spuren der Anatomie darin.

Die Zeiten haben sich geändert. Niemand hierzulande isst mehr alles auf, wie meine Mutter damals. Ich aber habe doch noch Mühe, etwas wegzuwerfen. Wenigstens landen die Reste dann im Kompost. Alte Schule ist das, merke ich. Denn modern sind die andern, die offenbar auch in der Schweiz bis 60 Prozent der gekauften Lebensmittel einfach in den Abfall werfen. Auch das Joghurt, das zwar noch gut ist, aber halt ein Datum aufgedruckt hat, das einen Tag letzter Woche anzeigt.
Essen ist in unseren Breiten billig geworden, auch das Fleisch. Denn auch Lebensmittel werden immer häufiger industriell produziert. Auch Tiere sind heute nur Produktionseinheiten, zu tausenden zusammengepfercht, produzieren sie riesige Seen aus Mist, der buchstäblich zum Himmel stinkt. Landwirtschaft wird zum grossen Umweltproblem, nicht nur in den USA sondern immer mehr auch in Europa, und den Schwellenländern. Auch dort geht es den Menschen jetzt immer besser, immer mehr Fleisch wird gegessen, und es muss immer billiger sein. Koteletts zum Schleuderpreis, Rindsfilet als Gelegenheitshäppchen. Mmmm…. wie gut!

Oder doch nicht? «Keis Brot isch nid guet», sagte meine Mutter, das hätten ihre Mutter und Grossmutter schon gesagt. Denn es ist noch nicht so lange her, dass auch in Europa nur die Reichen sich nicht darum sorgen mussten, ob am nächsten Tag genug auf den Tisch kam. Die Gegensätze, die damals offensichtlich waren, zwischen denen, die prassten und denen, die am Hungertuch nagten, sind heute auf die verschiedensten Erdteile verteilt. Man setzt sich hierzulande an den reich gedeckten Tisch, und nur in den Medien redet man davon, was für ein Problem es geben wird, wenn neun Milliarden Menschen zu ernähren sind. Wir sehen zwar schon über die übervollen Regale in den Supermärkten hinaus. Wissen so vage, wo Dürre herrscht in Ländern des Südens. Dort wo die letzten Wälder abgeholzt werden, damit eine arme Familie ein paar Meter gewinnt, um etwas anzubauen. Oder, wo fremde Grosskonzerne riesige Plantagen anlegen für das, was dann wieder in den Supermärkten der Reichen landet.

Wir, die Menschen, sind wie alle anderen Lebewesen offene Systeme, die in ständigem Austausch mit der Umwelt stehen, um leben zu können. Von den winzigen Algen im Meer auf einer tiefen Stufe der Nahrungskette bis zum Pottwal, von den Bakterien im Boden bis zu den höheren Säugetieren, zu denen wir Menschen gehören; ist alles in der Tier und auch der Pflanzenwelt auf Zufuhr von Nahrung und Wasser angewiesen; und ist auch selbst noch Nahrung für andere. Überall ist Kampf ums Überleben, Kampf um Nahrung.
In der Natur wie in der Menschheitsgeschichte.

Kriege, Revolutionen sind so erklärbar, gründen sich schlussendlich auf dies: Macht, Erde, Produktionsmittel, um Nahrung, für sich, seine Sippe, sein Land zu erobern und zu verteidigen. Revolutionen gibt’s, wenn denen da unten das Nötigste fehlt: Brot wie in der französischen Revolution. Krieg auch aus Gier nach immer mehr davon. Noch im Zwanzigsten Jahrhundert zur Eroberung von „Lebensraum“ wurde Krieg explizit deshalb angezettelt.
Denn Kultur, Zivilisation wird nur dort möglich, wo dieses fundamentale Bedürfnis genügend befriedigt ist. Nur wer satt ist und nicht seine ganze Zeit zur Nahrungssuche und Produktion verwenden muss, kann geniessen, kann spielen – was dann auch Tiere tun – kann nachdenken und Pläne machen. Nur in den Zivilisationen, die es schafften genügend Nahrung für viele und Überfluss für eine Oberschicht zu produzieren, gab es Kunst, Religion, Literatur, Philosophie. Auch die Entwicklung von Techniken aller Art ist grundsätzlich aus diesem ersten Urbedürfnis entstanden, Nahrung zu beschaffen und zu sichern.

Der berühmte Spruch des Philosophen Rene Descartes „Ich denke, also bin ich!“ kann ergänzt werden: „Ich esse und trinke, also komme ich dazu, zu denken, dass ich bin.“

Jetzt im Dezember wenn Essen raffiniert zubereitet und dekoriert, von Kerzenlicht erleuchtet, auf dem Tisch auf uns wartet, zeigt sich, wie wichtig Nahrung für Feste ist, die zentral sind für jede Kultur.

Auch an den Tagen nach Weihnachten ass meine Mutter jeweils die Reste auf. Denn ihr Körper fühlte noch genau, wie es war, als sie als junges Mädchen richtig Hunger litt.

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