FRONTPAGE

«Der diskrete Charme der Bourgeoisie im Schauspielhaus Zürich»

Von Ingrid Isermann

 

«Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen», weiss der Volksmund. Die Bourgeoisie wird darüber nur gelangweilt lächeln. Der 54-jährige Regisseur Sebastian Nübling entdeckt nach dem gleichnamigen Film (1972) von Luis Buñuel darin aktuelle Themen: «Menschen, denen es aufgrund ihrer ökonomischen Situation möglich ist, Problemen oder Irritationen auszuweichen». Mittels Slapstick-Tanzeinlagen in der Choreographie von Tabea Martin meistert das launige Ensemble mit funkelnden Dialogen die Situation.

 

In einer Zeit, in der sich die ökonomischen Gegensätze in der Gesellschaft verschärfen, ist dies kein weltfremder Ansatz. Sechs Personen einer gehobenen Gesellschaftsschicht, zwei miteinander befreundete Ehepaare und zwei weitere Figuren, verabreden sich zum gemeinsamen Essen, das aber nie zustande kommt. Als die aufgestellte Gruppe zusammen in ein Restaurant geht, ist der Besitzer gestorben und liegt aufgebahrt als Leiche auf einem Nebentisch. Die Begegnung mit dem Tod löst keine Empathie oder Betroffenheit aus. Man verabredet sich für das nächste Essen. Die zynische Ironie Buñuels wird durch die musicalhafte Präsentation der Figuren aufgelockert, man lässt nichts nahe an sich herankommen, ist wohlhabend und abgesichert und tanzt durchs Leben. Vor einem Theatervorhang in wechselnder Scheinwerfer-Beleuchtung in Rot oder Blau oder Schwarz trifft sich das Ensemble in gutsitzenden Anzügen und hübschen Abendkleidern zum Bossa Nova, dem Gesellschaftstanz mit klaren Regeln, gegen die mit notorischer Nonchalence regelmässig verstossen wird und die Frau dabei als naturgemässes Objekt der Begierde gefällt. Einige akrobatische Einlagen amüsieren das Publikum, dem insbesondere das Dienstmädchen eine skurrile Sonderrolle zukommt.

 

 

Unterwegs zum Nichtstun

Das Motiv der Bewegung zieht sich durch Buñuels Film und auch auf der Bühne sind die Protagonisten stets in Bewegung, verabreden sich zum Diner, dirigieren das Dienstpersonal umher, diskutieren über Alkoholsorten oder kulinarische Spezialitäten, sind ständig unterwegs zum Nichtstun, tun dies allerdings galant, mitunter auch charmant und jedenfalls unterhaltsam. Wenn es eine Kritik an einer oberflächlichen Lebensweise bedeuten sollte, so ist sie sehr angenehm verpackt. Ein vergnüglicher Abend mit in den Hintergrund gedrängten Sinnfragen, die nichtsdestotrotz aufscheinen. Und das hat nicht zuletzt wieder unmittelbar mit unserer Realität zu tun. Informationen, die ambivalent und widersprüchlich ankommen und eher zur Desorientiertheit führen, sind Teil unserer Medienwirklichkeit. Darin liegt die Aktualität des surrealen Stückes, das in der flotten Zurschaustellung kapriziöser Identitäten und Irritationen ein Spiegelbild psychischer gesellschaftsdynamischer Verfassungen komponiert.

 

 

 

Premiere: 18. Dezember 2014, 75 Minuten, keine Pause
Mit Anne Ratte-Polle, Jan Bluthardt, Susanne-Marie Wrage, Hilke Altefrohne, Lukas Holzhausen, Dagna Litzenberger Vinet, Jörg Schröder u.a.
Regie: Sebastian Nübling
Choreographie: Tabea Martin
Kostüme: Amit Epstein
Musik: Lars Wittershagen, frei arrangiert nach dem Bossa Novas «Aguas De Marco» von Antonio Carlos Jobim
Dramaturgie: Katja Hagedorn


Info Veranstaltungsdaten: www.schauspielhaus.ch

 

 

Luis Buñuel, 1900 in Calanda/Spanien geboren, erhält eine jesuitische Erziehung, die sein künstlerisches Schaffen nachhaltig prägte. 1917 zieht er nach Madrid, wo er die Universität besucht und begegnet Salvador Dali und Federico Garcia Lorca. Mit 23 Jahren geht Buñuel nach Paris in die Kreise der Surrealisten. 1928 dreht er mit Dali seinen ersten Film «Un chien andalou». Die Verbindung surrealer Ästhetik und sozialem Realismus wurde zum Merkmal seiner Filme. «Der diskrete Charme der Bourgeoisie» wurde 1973 mit dem Oscar ausgezeichnet. Buñuel stirbt 1983 in Mexiko-City.

 

 

 «Jakobs Ross»: Panorama eines Heimatromans im Theater Neumarkt

 

Von Ingrid Isermann 

Ein Wurf des Theaters Neumarkt: die Ensemble-Leistung des Stücks «Jakobs Ross» nach dem Roman der jungen Zürcher Autorin Silvia Tschui in der Regie von Peter Kastenmüller begeisterte das Publikum an der Premiere.

 
Die Bühne öffnet sich in elliptischer Weite zum Zuschauerraum, die Holzwände imaginieren die bäurische Umgebung. Silvia Tschuis (*1974) Debütroman «Jakobs Ross» stand wochenlang auf den Schweizer Bestsellerlisten und wurde von der Kritik als «Mischung zwischen Gotthelf und Tarantino» bezeichnet. Der Reiz liegt denn auch in der Vermischung hochdeutscher Sprache mit Dialekt-Einsprengseln, die dem bäurischen Alltag ihre Authentizität verleihen. Das Stück führt ins ausgehende 19. Jahrhundert in eine düstere bäurische Welt.

 

Elsie (Miriam Strübel) ist eine junge Magd, auf die der wohlhabende Dienstherr (Andreas Matti) ein Auge geworfen hat. Als sie schwanger ist, verkuppelt er sie an den naiven Knecht Jakob (Dominique Jann), der sich nichts sehnlicher wünscht als ein Ross. Jakob bekommt nicht nur ein Kind untergejubelt, sondern erhält auch einen verlotterten Hof am abgelegenen Finstersee zur Pacht. Elsie flüchtet sich mit ihrer Geige in Tagträume in eine Karriere in Florenz, während Jakob jeden Rappen dreimal umdreht, um zu einem Pferd zu kommen, um sich später auch einmal eine Kutsche zulegen zu können. Der Finstersee verführt zu Depressionen, giftige Beeren am Wege vernebeln den Horizont. Es kommen Fremde ums Leben, die Gypsies, von denen einer der Elsie den Kopf verdreht.

Das Panorama der bürgerlichen Gesellschaft zu Beginn der Industrialisierung lässt die Kluft zwischen arm und reich aufscheinen. Die feinen Damen und klavierspielenden Töchter der Pestalozzis und Sprünglis erscheinen im Überlebenskampf gegenüber der trostlosen bäurischen Wirklichkeit als harter Kontrast. «Jakobs Ross» ist zugleich brachial und poetisch, ein Stück Heimatroman aus dem Schweizer Alltag der Vergangenheit, der dennoch hochaktuelle Themen wie Fremdenhass, soziale Gerechtigkeit, den Geschlechterkampf und das Zusammenleben verschiedener Gesellschaftsschichten verhandelt.

 

Das Theater Neumarkt adaptierte Silvia Tschuis Stück in Zusammenarbeit mit dem kongenialen Musiker-Duo Vera Kappeler, Piano und Peter Conradin Zumthor, Schlagzeug.

 

 

Jakobs Ross
von Silvia Tschui
Uraufführung mit englischen Übertiteln
Regie: Peter Kastenmüller
Musik: Kappeler/Zumthor
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Franziska Born
Dramaturgie: Fadrina Arpagaus

Premiere: 17. Januar 2015
Veranstaltungen: www.theaterneumarkt.ch

 

 

 

 

«Die Metamorphosen der Holly Golightly»

 

Von Ingrid Isermann

Der Zeitgeist hat das Theater erreicht. In der Schiffbau-Box des Schauspielhauses inszeniert der 30-jährige Regisseur Christopher Rüping als Einstand seine Interpretation von Truman Capotes berühmter Erzählung «Frühstück bei Tiffany»: ein fragmentarisches Spiel der Irritationen, Identitäten und Gender-Variationen. Die Hauptperson Holly Golightly selbst entzieht sich jedoch über eine Stunde auf der Bühne und wird teilweise durch den männlichen Protagonisten Fred (Nils Kahnwald) verkörpert, bis sie später gleich dreifach (Hanna Binder, Magdalena Neuhaus, Isabelle Menke) auftaucht.

 

Gleich zu Beginn ist alles anders, die Zuschauer werden beim Eingang stimmungsvoll fröhlich mit Saxophon und Tuba musikalisch begrüsst und auf einen Jahrmarktplatz mit Bar und Karrussell gelotst. Als Zugabe kann man frische Zuckerwatte auf den erhöhten Sitzplatz mitnehmen und allerlei Clowneskes miterleben.
Ein Highlight vorweg: die Combo mit Roger Greipl, Hipp Mathis und ihrer fantastischen Blues-Sängerin Brandy Butler entführt die Zuschauer mit New York-Sound und dem Evergreen «Somewhere over the Rainbow» in die 60er-Jahre. Schade nur, dass die episch melancholische Titelmelodie aus dem 1961 verfilmten Klassiker mit Audrey Hepburn und George Peppard «Moon River» fehlte, die wie das kleine Schwarze und die Zigarettenspitze von Hepburn Berühmtheit erlangte. Das Bühnenbild von Ramona Rauchbach mit Karrussell, Riesenrad-Fragment, Auto-Scootern und Glitzerlichtern, imaginiert einen Raum der Träume und der sehnsuchtsvollen Erinnerung.
Holly Golightly, die Truman Capote im 1958 veröffentlichten «Breakfast at Tiffany’s» zum Leben erweckte, ist das bezaubernde und charmante Partygirl jener Aufbruchjahre der 60er, die als Lulamae aus der Enge der ländlichen US-Südstaaten ausbricht, in der New Yorker High Society ihr Glück sucht, wilde Parties feiert, sich immer in die falschen Männer verliebt, in fatale Drogengeschichten verwickelt wird und mit grosser Sonnenbrille inkognito am liebsten Schmuck bei «Tiffany», dem vornehmen Juwelier auf der 5th Avenue, aussucht, den sie sich nicht leisten kann, in manchem den Zügen ihres Alter Egos Truman Capote ähnlich.
Das wird im Zeitraffer vom divenhaften Protagonisten Nils Kahnwald als früherem Nachbarn und erfolglosem Schriftsteller Fred als Rückblende erzählt, die, wenn auch nicht langweilig, etwas gar lang geraten ist. Szenische Einsprengsel wie Holly Golightly mit ihrem flatternden Cocktailkleid über dem Luftschacht erinnern an Marilyn Monroe, doch das Bohème-Leben und die Kapriolen wirken zu wenig plastisch. Auch wenn echte Drinks Männer auf die Bühne locken, an die Stehbar, wie im richtigen Leben, findet das Leben hier eher als erzählte Camouflage statt.

Der Grossteil der Musik wurde von Christoph Hart, dem musikalischen Leiter des Abends zusammen mit den Musikern Hipp Mathis, Roger Greipl und Brandy Butler komponiert.

 
Frühstück bei Tiffany
Von Truman Capote
Bühnenfassung von Richard Greenberg
Deutsch von Ulrike Zemme
Schweizerische Erstaufführung
Premiere 31. Januar 2015.
Regie Christopher Rüping
Fred Nils Kahnwald
Holly Hanna Binder
Holly Magdalena Neuhaus
Holly Isabelle Menke
Joe Bell, Doc Golightly, Rusty Trawler Ludwig Boettger
José Ybarra-Jaeger Roger Greipl

 

120 Minuten, keine Pause

Veranstaltungsdaten: www.schauspielhaus.ch
(bis 28. Februar 2015).

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