FRONTPAGE

«Eine Sommerreise nach Ludwigsburg, Calw und Hirsau»

Von Ingrid Isermann

 

Baden-Württemberg lockt mit Barock und facettenreicher Kultur: Vom «Schwäbischen Versailles», dem prachtvollen Residenzschloss Ludwigsburg über die hübsche Fachwerkstadt Calw bis zur lebendigen Geschichte des Klosters Hirsau.

Vor den Toren Stuttgarts, der Landeshauptstadt Baden-Württembergs, liegt Ludwigsburg (83. 000 Einwohner) mit der grössten barocken Schlossanlage Deutschlands. 1704 begann der württembergische Herzog Eberhard Ludwig (1676-1733) den Bau des Barockschlosses mit 18 Gebäuden und 452 Gemächern. Die Parkanlagen mit dem einzigartigen «Blühenden Barockgarten» locken jährlich Tausende in das barocke Gesamtkunstwerk Ludwigsburg.

 
Liebe, Macht und Leidenschaft

Reichsgräfin Wilhelmine von Grävenitz erwartet uns lächelnd zur Kostümführung durch das Anwesen mit 18 Gebäuden und drei Höfen. Huldvoll durch die weitläufigen Gebäude schreitend, gibt sie einige pikante Anekdoten aus ihrem Leben bei Hofe als einflussreiche Staatslenkerin und Mätresse des Eberhard Ludwig Herzog von Württemberg zum Besten. 1733 war das Schloss Ludwigsburg erbaut, nebst dem stilvollen Jagd- und Lustschloss «Favorite» und dem Rokoko-Seeschloss «Monrepos». Im Sommer finden hier romantische Konzerte statt, wie im Juli und August das grosse Open Air mit Barockfeuerwerk der Ludwigsburger Schlossspiele. Staatsempfänge und kulturelle Veranstaltungen werden heute noch im Schlosstheater und im Ordenssaal veranstaltet.

Mit der charmanten Grävenitz flanieren wir, vorbei an pittoresken Bürgerhäusern in zarten Pastellfarben, zu Herzog Eberhard Ludwigs Denkmal mitten auf dem Marktplatz in Ludwigsburg, das zwischen einer protestantischen und einer katholischen Kirche steht. Baden-Württemberg blieb protestantisch.
Wir schreiben das Jahr 1736: «Mein komfortables Leben endete leider in der Verbannung, und hätte ich nicht meine Gulden gespart und wäre nach Preussen zu König Friedrich geflüchtet, wäre es mir schlecht ergangen», seufzt die Grävenitz und fächelt sich kokett frische Luft zu.

Wilhelmine von Grävenitz (1684-1744) stammte aus Güstrow in Mecklenburg und wurde 1706 durch ihren Bruder Wilhelm Friedrich von Grävenitz an den württembergischen Hof  eingeführt. Zwischen Wilhelmine und Herzog Eberhard Ludwig entflammte eine Liebesbeziehung, erzählt sie gedankenverloren, die über zwei Jahrzehnte andauerte. 1717 wurde sie sogar als Mitglied in das Geheime Cabinett aufgenommen und konnte somit grossen Einfluss auf die Regierung ausüben. Wegen ihrer 1707 mit dem Herzog eingegangenen Ehe wurde sie 1731 auf kaiserlichen Druck verhaftet, denn Eberhard Ludwig war bereits verheiratet! 1732 kam sie frei, wurde endgültig verbannt und ihre württembergischen Besitztümer beschlagnahmt. Als Entschädigung erhielt sie die beachtliche Summe von 150.000 Gulden.

Die Grävenitz zog nach Berlin, wo sie bis zu ihrem Tod 1744 lebte. Ihr Leben, von jubelnden Höhen zu tiefsten Tiefen, ist ein Spiegel ihrer Zeit. Die Kostümführung dauert 90 Minuten und kann auch für Gruppen gebucht werden.

 

Auch Goethe besuchte Schloss Ludwigsburg

Die Königin, Ihre Majestät Charlotte Mathilde, weilt gerade mit dem Hofstaat zur Kur. Kammerzofe Friederike ist allein im Schloss, ihr obliegt es, uns durch die prunkvollen Gemächer mit kostbarem Mobiliar, kristallinen Kronleuchtern, wertvollen Ölgemälden und echten venezianischen Spiegeln zu führen. Auch Goethe war schon hier und bewunderte das spiegelglatte Parkett, auf dem man leicht ausrutschen kann…  Die Räume der Bediensteten, die uns Friederike verstohlen öffnet, weisen verwitterte Holzbohlen als Fussboden auf, karg und unbeheizt hauste hier das Personal. 76 Personen zählte der feudale Hofstaat des Herzogs. 1804 stattete selbst Napoleon dem Schloss Ludwigsburg einen Besuch ab. Erst 1817 wurde notabene die Pressefreiheit eingeführt und die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben.
Auf über 30 Hektar erstreckt sich die prachtvolle französische Gartenkunst mit den Volièren exotischer Vögel. Die phantastische Zauberwelt im Märchengarten entzückt nicht nur die Kleinen, von Rapunzel, die auf Zuruf ihren Zopf aus dem Turm herunterlässt zum Knusperhäuschen mit lebensechten Figuren oder zum Froschkönig.
Ein Vergnügen für die ganze Familie.

Noblesse oblige: Im Residenzschloss Ludwigsburg befindet sich die einzige Porzellan-Manufaktur Baden-Württembergs, die 1758 von Herzog Carl Eugen gegründet wurde. Porzellankenner aus aller Welt schätzen die wertvollen Stücke.

 

Calw begeht das Hesse-Jahr 2012

Unweit von Ludwigsburg liegt der Hesse-Geburtsort Calw (23.000 Einwohner). Auf der Nikolausbrücke steht Hermann Hesse und schaut nachdenklich über den Fluss Nagold auf das Städtchen Calw mit seiner verwinkelten Altstadt. Jährlich kommen Tausende von Hesse-Fans, viele aus Fernost, um sich vor der lebensgrossen Bronze-Skulptur mit Hesse fotografieren zu lassen.
Zu Ehren des Schriftstellers, der vor 50 Jahren starb, finden in Calw über 50 Veranstaltungen statt, die an Leben und Werk des 1946 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Autors erinnern, der mit seinen Romanen «Steppenwolf», «Siddharta» oder das «Glasperlenspiel» Weltruhm erlangte.

Zwischen Juli und August – Hesses Geburtstag am 2. Juli 1877 und seinem Todestag am 9. August 1962 – finden zahlreiche Konzerte, Lesungen und Ausstellungen statt. Am 2. Juli wird der «Hermann-Hesse-Preis» der Hesse-Stiftung verliehen, am 7. Juli der «PanikPreis» der Udo-Lindenberg-Stiftung im Rahmen eines Rock-Konzerts an Nachwuchskünstler. Das neugestaltete Calwer Hesse-Museum präsentiert bis 19. August eine Auswahl von Hesse-Aquarellen: «Licht und Farbe. Hermann Hesse als Maler». Am 15. Juli wird der 52 Kilometer lange «Literarische Radweg» auf Hesses Spuren eingeweiht, eine Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach zwischen Nagold, Calw und Pforzheim.

 

Im Werk Hesses spielt Calw unter dem Pseudonym «Gerbersau» eine bedeutsame Rolle; mit den jährlich stattfindenden Gerbersauer Lesesommern huldigt die Stadt dem berühmten Dichter. «Unterm Rad», eine seiner frühen Erzählungen, spielt in Calw. Kindheit und Jugendjahre verbrachte Hesse in der Schwarzwaldstadt, übersiedelte in die Schweiz, zuerst nach Basel und fand später in Montagnola eine lebenslange Heimstatt, wo er von 1919 bis 1962 lebte. Seit 1923 war Hesse Schweizer Staatsbürger. Die Casa Camuzzi in Montagnola, wo einige seiner Romane entstanden, ist heute ein Hesse-Museum.

Die Weltauflage seiner Bücher beläuft sich inzwischen auf mehr als 120 Millionen Exemplare. Vergleichbar den Calwer Gerbersauer Sommerlesungen finden in Sils-Maria im Engadin jährlich drei bis vier Tage im Sommer die Silser Hesse-Tage statt. Die Vorträge und Diskussionen stehen jeweils unter einem Schwerpunktthema.

 

Die wechselvolle Geschichte des Klosters Hirsau

Nur etwa drei Kilometer flussabwärts von Calw liegt an reizvoller Lage des Nagoldtals der Stadtteil Hirsau. Die Ruinen des Benediktinerklosters St. Peter und Paul sind als Kulturdenkmal von europäischer Bedeutung wie auch das Kloster St. Aurelius und das Klostermuseum. Noch heute beeindruckt die historische Stätte mit dem emporragenden Eulenturm.
Der Dichter Ludwig Uhland besang die romantische Atmosphäre des Klosters Hirsau: „Zu Hirsau in den Trümmern, / Da wiegt ein Ulmenbaum / Frischgrünend seine Krone / Hoch überm Giebelsaum. / Er wurzelt tief im Grunde / Vom alten Klosterbau, / Er wölbt sich statt des Daches / Hinaus ins Himmelsblau“.
Ältestes Zeugnis der mittelalterlichen Klosterkultur in Hirsau ist die tausendjährige Aureliuskirche, eine dreischiffige flachgedeckte Säulenbasilika auf kreuzförmigem Grundriss mit gewölbten Seitenschiffen, in deren geheimnisvoller Atmosphäre im Sommer neben den Gottesdiensten regelmässig Konzerte stattfinden. Wir lauschen den Ausführungen des Guide und erfahren, dass die Dreharbeiten zum Film der Mysterikerin Hildegard von Bingen (1098-1179), verkörpert von der Schauspielerin Barbara Sukowa, nicht von ungefähr hier stattfanden, da Hildegard auch das Kloster Hirsau besuchte. Mit ihrer unkonventionellen Integration des Tanzes in den Gottesdienst wurde sie fast exkommuniziert. Am 27. Mai 2012 kündigte Papst Benedikt XVI. an, Hildegard am 7. Oktober 2012 zur Kirchenlehrerin zu erheben. Ihre Reliquien befinden sich in der Pfarrkirche von Eibingen.
Die Weihe der ersten Klosterkirche geht auf das Jahr 830 zurück. An gleicher Stelle entstand nach dem Verfall des Klosters unter dem Grafen Adalbert von Calw ein Neubau, die 1071 romanische Aureliuskirche. Mit der Vollendung dieser Kirche und der dazugehörenden Konventgebäude setzte unter der Führung des gelehrten Abtes und Reformers Wilhelm von Hirsau (1030-1091) ein ungeahnter Aufstieg des Klosters zu einem der bedeutendsten deutschen Reformklöster ein. Auch das Kloster in Schaffhausen wurde durch Abt Wilhelm betreut.
Geschichte schrieb die um 830 gegründete Abteil im 11. und 12. Jahrhundert als bedeutendes deutsches Reformkloster nach dem burgundischen Cluny. Die dreischiffige Basilika St. Peter und Paul war eine der grössten romanischen Kirchen Südwestdeutschlands, bevor sie 1692 im Pfälzischen Erbfolgekrieg durch französische Truppen zerstört wurde.
Mit der gotischen Marienkapelle, die bis heute kirchlich genutzt wird, und dem prächtigen Renaissance-Jagdschloss der Württembergischen Herzöge, in dem nach der Zerstörung die berühmte Ulme wuchs, kamen weitere Baustile hinzu. Im Klostermuseum kann man sich zudem in die Geschichte Hirsaus und das Leben der Benediktinermönche vertiefen. Nach der Reformation 1534 wurde eine Klosterschule eingerichtet.
Einen kulturellen Höhepunkt stellt in der Klosteranlage der Calwer Kultursommer in Hirsau dar, der jährlich im Juli/August durch Open Air-Konzerte Besucher anzieht.

www.ludwigsburg.de
www.grävenitz.de
www.schloss-ludwigsburg.de
www.waldhornamschloss.de
www.blueba.de
www.calw.de
www.roessle-calw.de
www.hotel-kloster-hirsau.de
Hermann-Hesse-Museum, Marktplatz 30, Calw
April-Oktober Di-So 11-17 Uhr,
November-März Di-Do,
Sa/So 11-16 Uhr. Tel. 07051/75 22.

Neue Veröffentlichungen 2012 über Hermann Hesse:

Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten.
Hanser, München 2012. 703 S., CHF 35.90.
Heimo Schwilk: Hermann Hesse. Das Leben des Glasperlenspielers.
Piper, München 2012, 431 S., CHF 34.90.
Hermann Hesse: Die Briefe 1881-1904. Hrsg. Volker Michels. Suhrkamp, Berlin 2012. 680 S., CHF 53.90.
Hermann Hesse: Das erzählerische Werk. Hrsg. Volker Michels. Suhrkampf, Berlin 2012. 10 Bände, CHF 184. Taschenbuchausgabe sämtlicher Jugendschriften, Romane, Erzählungen, Märchen und Gedichte.
Hermann Hesse: Das essayistische Werk. Hrsg. Volker Michels. Suhrkamp Berlin 2012. 10 Bände, CHF 212. Taschenbuchausgabe mit autobiografischen und politischen Schriften sowie Betrachtungen und Berichte.
Bärbel Reetz: Hesses Frauen. Insel-Verlag, Berlin 2012. 425 S., CHF 24.50.

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