FRONTPAGE

«Gegendenken»

Von Hedi Wyss

Hannah Arendt, die 1961 über den Prozess, den Israel Heinrich Eichmann machte, ein Buch schrieb, prägte den Ausdruck der „Banalität des Bösen“, der seither zu einem geflügelten Wort geworden ist, aber noch heute Diskussionen auslöst. Denn damit widerlegte sie den allgemeinen Glauben, dass nur ein Unhold, ein von bösesten Trieben geleiteter Mensch, solche Taten verüben könnte.
Doch sie erlebte Heinrich Eichmann als einen Durchschnitts-Beamten, der, so ihre Diagnose, vor allem seine Karriere verfolgte, indem er gewissenhaft ausführte, was im Nationalsozialismus gefordert war. So organisierte er getreulich, was Hannah Arendt „Verwaltungsmassenmord“ nannte – im Gegensatz zum „Völkermord“, bei dem Emotionen und Hass mitspielen.
Was sie an Eichmann zeigte, erklärt eigentlich auch, warum ein ganzes Volk mit wenigen Ausnahmen sich nicht widersetzte, mitmachte, nicht hinterfragte. Man hatte ja, schon bevor die jahrelange Hetzkampagne gegen die Juden den Boden bereitete, so im allgemeinen schon „gewusst“, wie die Juden sind. Der Antisemitismus war schon da, der ganz gewöhnliche Bürger hatte schon etliche Clichés im Kopf.

Vorurteile werden immer wieder von Generation zu Generation weiter gegeben, sie werden kaum hinterfragt. Auch sogenannt harmloses allgemeines Wissen überlebt – auch wenn es falsch ist, die Generationen. Es wird meist nicht in Frage gestellt, man wiederholt, was man so hört. Was Hannah Arendt tat, nämlich genau hinzusehen, neu zu interpretieren, was sie sah und hörte, gewissermassen gegen den Strom zu denken, das ist die Leistung dieser Philosophin.

Die traditionelle Erziehung, die zwar immer wieder in Frage gestellt wird, im 20. Jahrhundert etwa durch die 68er-Bewegung, setzte jeweils stark auf Gehorsam, auf Akzeptanz dessen, was von der Gesellschaft vorgegeben ist. Heute zwar ist die Möglichkeit viel grösser, gegen den Strom zu denken. In gewissen Gebieten ist es unumgänglich, in der Wissenschaft, in der Technik. Wer dies kann, sogenannte Tatsachen nicht einfach übernimmt, sondern sie von einer neuen, anderen Seite angeht, der findet da oft eine Lösung, wo vorher nichts in Aussicht schien. Doch das muss man lernen, in der Erziehung so finde ich, ist das eines der wichtigsten Prinzipien, die junge Menschen verinnerlichen sollten. Auch wenn die Eltern, wenn eine Autorität etwas als Tatsache hinstellt, sollte man doch „gegendenken“.
Gegendenken heisst zum Beispiel: nachfragen, woher die Autorität das weiss, sich informieren, ob es stimmt, was sie sagt, selber ausprobieren, ob es denn wirklich so sei.

Das ganz am Anfang, wenn die Eltern schon dem kleinen Kind schaudernd sagen, eine Spinne sei gruusig, eine Schlange glitschig, und der Weihnachtsmann komme mit der Fitze, wenn es nicht artig sei.
Natürlich sind das Teile unserer Kultur, das Christkind und der Osterhase, die man einfach so weitergibt. Aber vielleicht wäre es da auch ratsam, etwas zu relativieren, sich klar zu sein, dass es in anderen Kulturen andere Werte, andere Figuren, andere Regeln gibt. Im Zeitalter der weltweiten Reisen, der Globalisierung auch der Freizeit, wäre das eine gute Voraussetzung. Zudem kann jetzt jedermann im Internet leicht recherchieren, ob es stimmt, dass Wölfe Menschen bedrohen und im Gegensatz dazu erfahren, dass Raubtiere und Aasfresser wie Geier für ein Ökosystem unentbehrlich sind.
Dennoch halten sich falsches Wissen, besonders was Tiere betrifft und Vorurteile im Alltag hartnäckig. Was ist der Grund? Einfach eine menschliche Schwäche? Oder doch eine Bedingung, zu handeln und zu entscheiden, ohne durch zu viele komplizierte Erwägungen behindert zu sein?
Wer die Geschichte ansieht, wird sich klar, dass vieles sich, wie der Holocaust, nicht ereignet hätte, wenn Menschen nachgedacht, nicht gehorcht, gezweifelt, also das „Gegendenken“ geübt hätten.
Vorurteile haben es den Kolonialisten ermöglicht, Afrika auszubeuten, denn sie „wussten“ von vornherein, dass Schwarze wild und unwissend und den Weissen unterlegen sind. Man konnte so gar nicht wahrnehmen, dass es da alte, hoch entwickelte Kulturen gab.
Die grossen Kriege und die Ausbeutung von Öl – Jahrhunderte lang das Öl der Wale, die man weltweit deshalb fast ausrottete – und heute das Erdöl, hätte man nicht so drastisch durchgeführt, wenn die Konsequenzen für Ökosysteme – und heute auch für den ganzen Planeten – bedacht, das Gegendenken schon früh geübt worden wäre.

Eichmann kein Monster? Sondern einfach der Extremfall eines überkorrekten gehorsamen Staatsbürgers, zufällig aktiv in einem extremen Augenblick der abendländischen Geschichte? Das schockierte die Menschen zu recht, als sie Hannah Arendts Diagnose bedachten. Jetzt allerdings, da die katastrophalen Konsequenzen absehbar sind, wenn der sogenannte Fortschritt unaufhaltsam so weitergeht, scheint es, dass es wirklich der Menschheit unmöglich ist, alles in Frage zu stellen und die Konsequenzen zu ziehen. Und dass trotz Wissen die Gier doch stärker ist.

Der neue Film von Margarethe von Trotta über Hannah Arendt läuft gegenwärtig in den Kinos.

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