FRONTPAGE

«Hans Magnus Enzensberger: Tumult»

Von Ingrid Isermann

 

«Tumult» nennt Enzensberger seine wechselvollen Erinnerungen an die 60er und 70er Jahre. Wer sich nach einem halben Jahrhundert wiederbegegnet, sollte auf Überraschendes gefasst sein. Ein Fund im Keller war der Anlass für eine Auseinandersetzung mit sich und der Vergangenheit. Ein spannender autobiographischer Rückblick Hans Magnus Enzensbergers auf ein Jahrzehnt des Umbruchs.

 

Ein Feigenblatt vor der Nacktheit der Leere
Gedichte? Liest man noch Gedichte? Oder eher als Lebensweisheiten im Geschenkformat, geeignet als Mitbringsel? Lyrik geht übrigens viel schneller als Twitter, direkt ins Blut, und 140 Zeichen hättens in sich… nix von der Pizza, die mal schnell in den Ofen zu schieben ist oder sonstwelchem Gelaber. Ein Gedicht – so eine Art Feigenblatt vor der Nacktheit der Leere? Und liest man, und warum, den Dichter Enzensberger? Gehört der in die gute Stube? Das klingt altmodisch und ist es auch. Deshalb wohl hat Hans Magnus Enzensberger (85) als aufmerksamer, spöttischer Beobachter seiner Zeit jetzt eine Lunte gezündet und in die Zuschauerränge geworfen.

 

Ein autobiographischer, fast photographischer Rückblick

«Tumult» nennt Enzensberger seine wechselvollen Erinnerungen an die 60er und 70er Jahre, Moskau, Kuba, Frauen und bewegte Zeiten. Und mitunter wird ihm, der die Verhältnisse so gut sezieren kann und konnte, von der Kritik unterstellt, es sei ihm ja nicht beizukommen, und irgendwie sei das auch alles schon gegessen. Was oft nicht beachtet wird, ist, dass Worte ein nachhaltiges Eigenleben haben, dass sie zurückkommen und auch den kritischen Verfasser zu fassen kriegen. Wichtiges, Unwichtiges, Reales und Surreales. So ist das mit der Sprache, den Worten, und der Lyrik. Wer Zwischentöne nicht mitkriegt, dem ist eh nicht zu helfen. Aber werfen Sie sich in den «Tumult» und lassen Sie sich nicht abschrecken. Wir schauen uns selbst zu, bei unserem Tun, und wissen manchmal nicht, warum dies oder jenes so lief.

 

Wer sich nach einem halben Jahrhundert wiederbegegnet, sollte auf Überraschendes gefasst sein. Ein zufälliger Fund im Keller war der Anlass für eine Auseinandersetzung mit sich und seiner Vergangenheit. «Zwischen Weinregal und Werkzeugkasten dämmerten einige Pappschachteln vor sich hin. Ich öffnete sie auf der Suche nach irgendeinem alten Vertrag und stiess auf vergessene Briefe, Notizbücher, Photos, Zeitungsausschnitte, liegengelassene Manuskripte. Der Zufall regierte in diesem Papierhaufen. Aber zumindest fand sich in diesem Durcheinander nichts, was hinterher, aus grossem zeitlichen Abstand, erfunden worden wäre».

Entstanden ist ein autobiographischer Rückblick Hans Magnus Enzensbergers auf ein Jahrzehnt des Umbruchs. «Mein Interesse an einer Autobiographie lässt zu wünschen übrig. Ich will mir gar nicht alles merken, was mich betrifft. Mit Widerwille blättere ich in den Memoiren meiner Zeitgenossen. Ich traue ihnen nicht über den Weg. Man braucht weder Kriminologe noch ein Erkennnistheoretiker zu sein, um zu wissen, dass auf Zeugenaussagen in eigener Sache kein Verlass ist».

1963 führt den Autor eine erste Reise nach Russland, unverhofft wird er mit namhaften Autoren wie u.a. Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Giuseppe Ungaretti auf Chruschtschows Datscha eingeladen. Die vergessenen Notizen, die er sich damals machte, sind nun erstmals veröffentlicht. Drei Jahre später durchstreift er die UdSSR vom äussersten Süden bis nach Sibirien. Auf der abenteuerlichen Reise begegnet er seiner zweiten, russischen Frau, deren Beziehung als „amour fou“ das Buch wie einen roten Faden durchzieht. 1968-69 gerät der Dichter in eine Phase des politischen und privaten Tumults in der 68er-Aufbruchszene in Deutschland mit der RAF. Im Vietnamkrieg verschlägt es Enzensberger in die USA, dann in die Turbulenzen der kubanischen Revolution. Die Fraktionskämpfe der ausserparlamentarischen Opposition (APO) in Berlin sind jedoch nicht so weit entfernt, als dass der Dichter nicht auch auf diesem Schauplatz als Akteur agieren würde.

Wie sieht der Autor nach einem Zeitabschnitt von 50 Jahren auf den jungen Enzensberger? Ein Streitgespräch, das auch Widersprüche zulässt und ein Interview mit sich selbst bildet einen der funkelnden Beiträge des Buches. «Auch der Mensch war mir fremd, den ich in den Papieren, die ich in meinem Keller fand, angetroffen habe. Dieses Ich war ein anderer. Ich sah nur eine Möglichkeit, mich ihm zu nähern: den Dialog mit einem Doppelgänger, der mir wie ein jüngerer Bruder vorkam, an den ich sehr lange Zeit nicht mehr gedacht hatte. Ich wollte ihn ausfragen»:

«Wir werden uns streiten, wir werden uns in Widersprüche verwickeln.

Das macht nichts. Ich habe nur eine Frage an dich. Kannst du mir erklären, was du damals getrieben hast?

Nein. Ich habe das meiste vergessen und das Wichtigste nicht verstanden.

Erzähl mir alles. Ich möchte, dass du mit dem Anfang anfängst und diese alte Geschichte zu Ende bringst.

Die Erinnerung, die du einforderst, kann nur eine Form annehmen: die der Collage. Nur, wie soll ich dabei den objektiven vom subjektiven Tumult unterscheiden? Mein Gedächtnis, dieser chaotische, delirierende Regisseur, liefert einen absurden Film ab, dessen Sequenzen nicht zueinander passen. Der Ton ist asynchron. Ganze Einstellungen sind unterbelichtet. Manchmal zeigt die Leinwand nur Schwarzfilm. Vieles ist mit wackelnder Handkamera aufgenommen. Die meisten Akteure erkenne ich nicht wieder.

Das ist gut so.

Es ist ein Wirrwarr.»

 

 

Im Schlusskapitel resümiert Enzensberger die politischen und privaten Obsessionen der 60er Jahre. Das Buch ist den bereits Vergessenen und Verschwundenen gewidmet. Eine Zeitreise durch ein bewegtes Leben.

«Eines Tages war alles vorbei. Es überkommt mich, ich weiss nicht warum, eine grosse Ruhe. Als ich diese zwei Zeilen hinschrieb, war die Zeit der Normalisierung angebrochen. War die Vernunft zurückgekehrt? Nein. Doch der Tumult war nicht umsonst gewesen».

 

Siehe auch das Interview von Ijoma Mangold mit Hans Magnus Enzensberger in der ZEIT: https://www.zeit.de/2014/43/hans-magnus-enzensberger-buch-tumult

 

Hans Magnus Enzensberger
Tumult
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
290 S., gebunden,
CHF 31.50. € 21.95.
ISBN 978-3-518-42464-3

Hans Magnus Enzensberger, geboren am 11. November 1929 in Kaufbeuren/D. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und Übersetzer einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen. Mit seinem neuen, autobiographischen Buch bietet er einen Rückblick auf ein umstrittenes Jahrzehnt, die 60er Jahre.

 

 

L&K-Buchtipp

«George Plimpton: Truman Capotes turbulentes Leben»

 

Truman Capotes turbulentes Leben, kolportiert von Freunden, Feinden, Bewunderern und Konkurrenten: als würde man bei einer Cocktailparty zufällig auf Truman Capote, seine Freunde und Bekannte treffen und persönliche Erinnerungen, Meinungen und Anekdoten zu hören bekommen. Ein sehr persönliches Kaleidoskop über Truman Capote, amüsant, bewegend, kritisch. 


Um eine «oral biography», schreibt der Verfasser George Plimpton, also um eine Biographie, die auf mündlichen Aussagen beruht, handelt es sich bei dem gerade neu erschienenen Buch über Capote. Es ist erstaunlich, dass soviele Jahre nach seinem Tod im Jahre 1984 Capote immer noch Schlagzeilen macht und vor kurzem in seinem Nachlass wiederum Kurzgeschichten gefunden wurden, die er bereits mit sechzehn oder siebzehn Jahren geschrieben hat und die im Frühjahr 2015 im Verlag Kein & Aber, Zürich deutsch und englisch erscheinen werden. Ein Vorabdruck von vier Capote-Kurzgeschichten aus dieser Sammlung wurde bereits kürzlich im ZEIT-Magazin vom 9. Oktober 2014 veröffentlicht.
Truman Capote liess niemanden kalt, der Verleger John Bargent schrieb über ihn in seinem Tagebuch: «Truman Capote / Hat nicht halb so einen Knall / Wie manche von den Gästen / auf seinem Ball». Und in der Tat, Capote war ein exzellenter Beobachter der High Society, die er in seinen letzten Aufzeichnungen «Erhörte Gebete» beschrieb. Sein Leben mit Prominenten und Künstlern war für ihn Antrieb und Abstossung zugleich.

 

Truman Capote, eigentlich Truman Streckfus Persons, geboren 1924, wuchs unter schwierigen Bedingungen in den Südstaaten in der Nähe von New Orleans auf. Als seine Eltern sich scheiden liessen, lebte er jahrelang bei alten Tanten in Monroeville/Alabama, bis ihn seine Mutter mit acht Jahren nach New York nahm. Durch ihre häufigen Umzüge wechselte er oft die Schulen und war nach eigenen Aussagen von jeher nur an der Schriftstellerei interessiert. Schon mit fünfzehn Jahren war er ein ausgezeichneter Stilist. Mit achtzehn Jahren konnte er als Laufbursche auf der Redaktion des renommierten «New Yorker» erstmals auf sich aufmerksam machen und mit eigenen Manuskripten beeindrucken. Durch seine faunhafte, zierliche Erscheinung, fiel er sogleich in seiner Umgebung auf. Nachdem seine ersten Romane «Andere Räume, andere Stimmen» (1948) und «Die Grasharfe» (1951) sowie die Kurzgeschichten «Baum der Nacht» (1949) erschienen waren, wurde er weitherum bekannt und als junges Genie gehandelt, als zentrale Gestalt des gesellschaftlichen Lebens in New York. Mit der später mit Audrey Hepburn verfilmten Erzählung «Breakfast at Tiffanys» wurde sein Ruhm für Jahrzehnte gefestigt.

 

Phoebe Pierce Vreeland (Zeitschriften-Redakteurin, arbeitet an einem Buch über Manhattan in den 1940er und 1950er Jahren):

 

«Truman zu begegnen war wunderbar für mich, denn wie die meisten Teenager, die sich vor allem für das Schreiben interessieren und nicht so sehr für die Welt um sie herum, dachte ich schon, ich würde verrückt werden! Bin ich noch normal? Versteht überhaupt irgendjemand, wovon ich spreche? Truman wusste von Anfang ganz genau, was er werden wollte. Ein Schriftsteller. Das war das Wichtigste für ihn. Das war alles, womit er sich an der Greenwich High beschäftigte. Zumindest bis Catherine Wood zu uns kam. Sie war eine wunderbare Frau. Die ideale Lehrerin. Hätte an sie in einen Raum mit hundert anderen Frauen gesteckt und gefragt: «Welches ist die Lehrerin?», hätte jeder auf sie getippt – gross und strahlend, gütig, aber nicht naiv. Sie nahm sich Truman vor und brachte ihm die Grundlagen bei, Grammatik und die Regeln der Dichtkunst, und sie sprach sich mit den anderen Lehrern ab, so dass er um Dinge wie Algebra herumkam.
Schon damals, mit zwölf oder dreizehn, war er von der besseren Gesellschaft fasziniert. In Greenwich kannte er Leute, die furchtbar langweilig waren, aber er interessierte sich für ihre Häuser und ihren Lebensstil. Er war schon immer von den Feinheiten des Gesellschaftslebens fasziniert. Alle, die ihn kannten und mochten, fragten: «Wie kannst du diese Leute nur ertragen?» Wir zogen ihn freundlich damit auf: «Warum hängst du mit solchen Idioten rum?» Aber ihm gefiel es.
Ich war oft bei ihm zu Hause. Ich kannte seine Eltern, Nina und Joe, recht gut. Ich stand mit Nina bis zu ihrem Tod in Verbindung. Sie und Truman waren ein seltsames Paar. Zuerst einmal, und das ist nie jemandem aufgefallen, sahen sie sich sehr ähnlich. Man könnte jetzt sagen, sie waren Mutter und Sohn, warum also nicht? Aber es war geradezu unheimlich – dieselbe Haarfarbe, dieselbe hohe Stirn, dieselben Augen, derselbe Mund, derselbe Körperbau. Ein eher schlanker Oberkörper, breite Hüften und stämmige Beine.
Nina war die erste Südstaatlerin, der ich begegnet bin. Sie war ein echtes Kind des Südens. Sie staunte über alles. Über die Auslagen bei Schrafft’s, einfach über alles. Das will schon etwas heissen. Sie war eine entzückende, charmante und originelle Frau, aber wir beide waren völlig verschieden. Sie jagte mir Angst ein, weil sie sich nicht wie eine Mutter benahm. Greenwich war in keinster Weise ein langweiliger Vorort – es gab dort einige interessante, exzentrische und amüsante Leute – aber sie war ganz anders als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Und sie war die einzige geschiedene Mutter, die ich kannte (daran sieht man, wie die Zeiten geändert haben). Dadurch war sie so etwas wie eine Exotin. Nina war eine Schönheit, wirklich. Sie war ungewöhnlich attraktiv, auch sexuell. Sie konnte charmant sein, aber man hatte nie das Gefühl, dass sie es wirklich so meinte. Sie war immer gut angezogen, sie hatte viel Stilgefühl – bei ihrer Frisur und allem anderen auch. Ich kann mich noch an ihren Schmuck erinnern. Sie liebte Amethyste und trug immer welche, Joe schenkte sie ihr zum Geburtstag. Und sie hatte sehr gute Manieren.
Ich war erst elf, als ich sie kennenlernte. Einen Moment lang behandelte sie Truman liebevoll, und dann wieder ganz furchtbar, so dass er nie wusste, woran er war. Sie beschimpfte ihn vor allen Leuten: «Du wirst noch in der Gosse landen», so in der Art. Man wusste nie, was sie als Nächstes tun würde, und das ist wirklich nicht leicht zu ertragen. Joe dagegen war sehr viel netter und absolut wundervoll zu Truman.
Apropos Joe, er war damals ein liebenswürdiger Kerl, unglaublich witzig. Nina war die erste Geschiedene, die ich traf, und Joe der erste Kubaner. Er hatte einen tollen kubanischen Akzent, der ganz anders klingt als ein puertoricanischer oder ein spanischer. Er war lustig, humorvoll und brachte mir bei, Rumba zu tanzen. Nina war sein Ein und Alles, aber er wusste nicht recht, wie er mit alldem fertig werden sollte. Mit Geld konnte er auch nicht umgehen und landete schliesslich in Sing-Sing, wegen Unterschlagung oder etwas Ähnlichem. Das werde ich nie vergessen – in Sing-Sing! Wie in einem James-Cagney-Film. Derselbe nette Kerl, der mir Rumba beigebracht hatte».

 

 

Paul Bowles (Komponist, Schriftsteller «Der Himmel über der Wüste»):
Truman war ein sehr interessanter Gesprächspartner, deshalb konnte ich ihm auch zuhören, wenn er über sich selbst und seine Pläne und Vorhaben sprach. Damals schrieb er an einem Buch, es stellte sich später heraus, dass es «Die Grasharfe» war.

 

Ned Roram (Autor, Pulitzer Preisträger):
Ich mochte Truman vom ersten Moment an. Sein Trick war, dass er sich für dich interessierte – zumindest war es bei mir so. (..) Ich war einige Tage in Tanger und besuchte Jane und Paul (Bowles). Jane war unwiderstehlich, wenn man mit ihr auskam. Sie war einzigartig, genau wie Truman. Und erst die beiden zusammen! Sie wohnten alle im Hotel El Farbat.

 

Kurt Vonnegut (Schriftsteller):

Es ist witzig, aber auch erstaunlich, dass er diesen Leuten derart die Krallen zeigte.

 

 

George Plimpton

Truman Capotes turbulentes Leben

kolportiert von Freunden, Feinden, Bewunderern und Konkurrenten.

Aus dem Amerikanischen von Yamin von Rauch

Rogner & Bernhard, Berlin 2014

496 S., geb.

CHF 40.90

 

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