FRONTPAGE

«Ich sterbe vor Hunger auf alles»

Von Chris Köver

Alice Schwarzer erzählt von sich. Ihre Autobiografie «Lebenslauf» lässt sie uns neu erkennen.

 

Wenn eine derart öffentliche Person wie Alice Schwarzer eine Autobiografie schreibt, so ist das natürlich eine besondere Situation, schon weil jeder, der oder die die vergangenen 30 Jahre nicht unter einem Stein gelegen hat, ein Bild von ihr hat. Selbst wer ihre Bücher und Artikel nicht gelesen hat, kennt ihre Auftritte, weiß um ihre Rolle im Kachelmann-Prozess und kommt nicht umhin, die Debatten zu verfolgen, die über sie geführt werden – derzeit etwa anhand ihres öffentlichen Schlagabtauschs mit der Autorin der Schoßgebete Charlotte Roche. Eine solche Autobiografie gewinnt zwangsweise den Charakter einer Gegendarstellung.

Umso höher ist es Alice Schwarzer anzurechnen, dass dieses Buch, veröffentlicht unter dem lakonischen Titel Lebenslauf,eben das nicht ist. Es geht um die ersten 35 Jahre ihres Lebens, von der Kindheit bis zur Gründung ihres Frauenmagazins Emma im Jahr 1977, und nur selten gewinnt man in dieser Rückschau den Eindruck, hier habe jemand eine Rechnung zu begleichen. Zwar enthält das Buch den einen oder anderen Verteidigungsversuch, Angriffe gab es über die Jahre ja genug, Klischees auch. Gerade in den ersten Kapiteln über ihre Kindheit und Jugend wirkt es aber, als genieße Schwarzer es, zurückzublicken, in Erinnerungen und Unterlagen zu suchen und daraus die eigene Geschichte zu spinnen. Zu berichten gibt es da ja weiß Gott genug.

 

Über die Kindheit in Wuppertal, wo sie in einer atypischen Familiensituation aufwächst – als uneheliches Kind, mit der denkbar wenig mütterlichen Mutter, einer politisierten Großmutter und dem fürsorglichen Großvater –, hatte man schon in der nicht autorisierten kritischen Biografie von Bascha Mika, der ehemaligen Chefredakteurin der Tageszeitung, gelesen. Schwarzer erzählt es jetzt wieder, und man versteht danach in der Tat, wie eine, die unter solchen Umständen aufwächst, zur Feministin werden muss – dass die Geschlechterrollen nicht von Natur aus vorgegeben sind, hat sie ja am eigenen Leib erlebt!

 

Die Alice Schwarzer jedoch, die man auf den folgenden Seiten trifft, kannte man so bislang noch nicht. Eine, die als Mädchen für Elvis schwärmt. Die mit 14 am Waldrand den ersten Jungen küsst. Die später während der Ausbildung an der Handelsschule mit ihrer Mädchenclique in Wuppertal um die Häuser und durch die Jazzkeller zieht und als Blondine im kurzen Rock den Männern den Kopf verdreht. Die mit 20 ihr erstes Mal erlebt. Mit den Freundinnen per Autostopp nach Hamburg, München, Paris, Nizza trampt. An den Freund in Paris schreibt sie damals so herzergreifend leidenschaftliche Sätze wie: »Ich sterbe vor Hunger auf alles. Absolut Alles!« und: »Unsere Pläne sind viel zu bürgerlich. (…) Ich will einen großen Schritt machen. Etwas Neues. Mich befreien!« Und dazu diese Bilder!

Die Bilder begleiten jedes der 15 Kapitel in diesem Buch, Fotos aus Schwarzers privatem Archiv, es sind diese Seiten, die einen besonderen Sog ausüben. Man sieht diese Bilder – Schwarzer am Strand, im Minirock, lässig rauchend in der Bar, eng umschlungen mit dem Freund, grinsend mit der besten Freundin im Fotoautomaten – und würde am liebsten die nächsten Seiten schnell überblättern, vor bis zur nächsten Bilderseite.

Es ist kein Zufall, dass die ersten Seiten genau dieses Bild zeichnen, dafür ist Alice Schwarzer eine viel zu kluge Frau. Und doch: Diese Alice ist eine, die man selbst nur allzu gern als Freundin gehabt hätte: mutig, abenteuerhungrig, politisch interessiert, auch mal verplant und gerade deshalb so sympathisch.

 

Die entscheidende Frage ist: Wie wurde aus dieser energetischen jungen Frau die Alice Schwarzer, die man heute kennt? Eine, die immer noch überaus witzig, herzlich und charismatisch sein kann, die die Frauenbewegung in so vielerlei Hinsicht vorangebracht hat, aber zugleich ihre spezifische Sicht von Emanzipation und Feminismus allzu oft als die einzig mögliche betrachtet, mit ungeheurer Dominanz durchsetzt und – das ist vielleicht das Bedauerlichste – kaum noch Kritik an ihren Handlungen und Äußerungen annehmen kann, auch nicht berechtigte. Eine kämpferische, aber in sich abgeschlossene hermetische Bastion.

Diese Haltung hat Schwarzer über die Jahre viele FeindInnen eingebracht, auch innerhalb der Frauenbewegung. Man muss das nach Lektüre nicht weniger problematisch finden, aber zumindest kann man jetzt einiges nachvollziehen. Über die unsäglichen persönlichen Diffamierungen und Erniedrigungen, die sie nach der Veröffentlichung des Kleinen Unterschiedsjahrelang über sich ergehen lassen musste, schreibt Schwarzer überaus ehrlich, auch über die Verletzungen, die dies zur Folge hatte: »Wäre ich, als das mit mir losging, damals nicht schon Anfang 30 gewesen und eine Frau mit der gelassenen Lebenserfahrung, begehrt zu sein – diese Flut von Hohn und Spott hätte mich unter sich begraben können.« Da ist es verständlich, dass man Schutzwälle hochzieht, um nicht gänzlich verschüttet zu werden unter dieser Lawine von Niedertracht. Auch wenn es bedauerlich ist, dass man diese Wälle später auch denen gegenüber nicht wieder abbauen kann, die gar nicht verletzen wollen, sondern einfach nur inhaltliche Differenzen aussprechen.

Das Erstaunlichste an diesem Buch, auch für all diejenigen, die Schwarzer heute kennen, ist allerdings ihre damalige politische Haltung. Wenn man liest, wie stark Schwarzer sich einmal als links verortete, wie sie jede Form von Konservatismus und Spießbürgerlichkeit verachtet hat und als junge Journalistin in Paris vor allem aus den Fabriken berichtete, dann wird es umso unverständlicher, wie sie 30 Jahre später eine konservative Kanzlerin unterstützen kann, nur weil diese eine Frau ist. Und wenn sie schreibt, wie sie in München und Paris nächtelang mit Prostituierten an der Bar gesessen und geredet hat, wird umso verwunderlicher, wie undifferenziert sie Sexarbeiterinnen heute pauschal als Opfer abstempelt.

Lesenswert ist dieses Buch nicht nur aufgrund dieser Widersprüche, sondern auch, weil man aus der Innensicht noch einiges mehr erfährt über die verschiedenen Stationen ihrer Geschichte, die sich manchmal liest wie ein unwahrscheinlicher Entwicklungsroman. Wie es war, im Deutschland der Fünfziger eine junge Frau gewesen zu sein, und wie viele andere Wendungen Schwarzers Leben hätte nehmen können oder statistischer Wahrscheinlichkeit zufolge hätte nehmen müssen – ohne Abitur, vor der Erfindung der Pille –, darüber erfährt man hier einiges (im Übrigen eine interessante Parallele zur Biografie der von ihr so verehrten Simone de Beauvoir). Auch über die Anfänge der Frauenbewegung in Paris und Deutschland, die Freundschaft mit de Beauvoir, die damaligen Zustände in der deutschen Presselandschaft, wo Schwarzer nach ihrem Volontariat bei den Düsseldorfer Nachrichten von Pardon bisFilm und Frau verschiedene Stationen durchlief, bevor sie Korrespondentin in Paris wurde. Und selbstverständlich geht es auch um die stern- Aktion gegen den Paragrafen 218 und ihren Werdegang in der deutschen Presse zur »frustrierten Tucke« und »Schwanz-ab-Schwarzer« im Anschluss an die Veröffentlichung des Kleinen Unterschieds.

 

»Dass meine Realität in weiten Strecken so ganz anders aussieht als diese Projektionen, auch das gilt es zu sagen«, schreibt Schwarzer im Vorwort. Man muss diese Realität nun nicht für die einzige wahre halten. Und sicher ist nicht jede Kritik an ihr reine Projektion, auch wenn sie es gerne so darstellt. Aber überraschend anders als das öffentliche Bild ist ihre Realität allemal.

 

 

 

Courtesy DIE ZEIT, Erstveröffentlichung Nr. 38 vom 15. September 2011.

 

Chris Köver, *1979, ist Kulturwissenschaftlerin und Mitbegründerin des Frauenmagazins für Politik und PopkulturMissy.

 

Alice Schwarzer, geboren am 3. Dezember 1942 inWuppertalElberfeld, ist eine der bekanntesten Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung. Im Januar 1977 erschien die erste Ausgabe der von ihr gegründeten Zeitschrift Emma, deren Verlegerin und Chefredakteurin sie seither ist.

 

1979 fuhr Alice Schwarzer mit einer Gruppe französischer Intellektueller nach Teheran, nur wenige Wochen nach der Machtergreifung Khomeinis auf den Hilferuf von Iranerinnen hin, die sich gegen Zwangsverschleierung und Entrechtung wehrten. Schwarzer schrieb darüber einen Artikel in der Emmaund der Zeit, dessen Credo lautete: „Diese Frauen waren gut genug, ihr Leben im Kampf für die Freiheit zu riskieren, sie werden nicht gut genug sein, in Freiheit zu leben.“ Seither ist die Gefahr, die vom religiösen Fundamentalismus ausgeht, eines ihrer zentralen Themen.

 
 

Alice Schwarzer
«Lebenslauf»

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011.

464 S., CHF 32.90. 22,99 €

ISBN 978-3-462-04350-1.

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