FRONTPAGE

«Neuseeland: Naturparks, Kahlschlag und wilde Küsten – im Nordosten der Südinsel»

Von Ingrid Schindler

 

Von Nelson über den Abel Tasman Nationalpark und die Westcoast nach Queenstown: Die Natur ist grandios, aber nicht immer ist Neuseeland Natur pur. Ohne rosa Brille sehen wir im zweiten Teil unserer Neuseelandreise die schönen und weniger schönen Seiten des Nordwestens der Südinsel.


Mehr Eindruck haben uns die überdimensionalen, in frechem Grün auffallenden Grünlippenmuscheln im Fischmarkt von Auckland gemacht. Wir kehren deshalb nach der harmlosen Küstenkurverei auf dem Queen Charlotte Drive, vor dessen Schwierigkeit der Reiseführer warnt, in Havelock ein: im Slip Inn, dem Place to be für superfrische Greenlip Mussels. Die Riesen unter den Miesmuscheln werden bis zu 17 cm gross, schmecken aber mehr mies als fein und sind mit dicklichen Emulsionen – Saucen in Geschmacksrichtung Chili, Curry, Pesto und nature –überzogen. Auch der Sauerampfer von Riesling, der dazu empfohlen wird, mundet einmal mehr nicht.

 

Wir fahren durch Nelson, der am meisten von der Sonne und Nationalparks verwöhnten Region Neuseelands (im Westen und Norden der Kahurangi NP und der Abel Tasman NP und im Süden der Nelson Lakes NP) – und staunen ungläubig über die Auswüchse der hiesigen Holzindustrie. Kilometer für Kilometer Kahlschlag, erodierte Bergkuppen und -flanken, „wood waste“, herausgerissene Wurzeln und Stämme auf grausam zerstörten Bergketten, Schlachtfelder, wie mit durcheinandergeschmissenen Riesenzündhölzer übersät. Pinus radiata, die aus Kalifornien eingeführte, gradwüchsige, hoch ertragreiche Kiefernart (vier- bis fünfmal mehr Ertrag als die Gemeine Kiefer, in ca. 25 Jahren erntereif), beherrscht das Land. In ihrer Heimat Monterey wächst das quasi astlochfreie Holz fünfmal langsamer. In der kommerziellen Forstwirtschaft hat sich die Radiatakiefer in Chile, Südafrika und vor allem Neuseeland als schnellwüchsigste aller circa 115 Kiefernarten überhaupt erwiesen. Sie erreicht bereits mit 40 Jahren eine Wuchshöhe von Metern, erntereif ist sie nach 20 bis 25 Jahren.
Die Holzindustrie ist mit 13.3 % Exportanteil heute mit der Milchwirtschaft (siehe Teil 1) einer der wichtigsten und mächtigsten Wirtschaftszweige des Landes. Das neuseeländische Kiefernholz wird für die Produktion von Paletten, MDF-Platten, Papier und Zellstoff in die ganze Welt exportiert. China, das kaum über eigene Holzressourcen verfügt, ist ein guter Kunde und der Marktanteil der chinesischen Papierindustrie am Weltmarkt erstaunlich hoch.

 
Im Abel Tasman Nationalpark
Kurz vor Kaiteriteri, unserem Tagesziel, machen wir in einem lässigen Fruits & Veges Café in Motueka Pause und lassen für zwei Kaffees, ein Pfund knackigen Kirschen, ein paar Pflaumen und Nektarinen (zum Vergessen), einen Bun und einen Orangenkuchen umgerechnet 70 Franken liegen. Unser B & B im Badeort Kaiterteri mit vielen schönen Holzhäusern – 94 Prozent der Häuser in Neuseeland sind aus Holz gebaut – ist diesmal ausnahmsweise gut ausgestattet und wir haben von der Terrasse einen Wahnsinnsblick auf das Farbenspiel der Küste der Tasman Bay in allen Tönen zwischen Grün, Blau und Grau. Trotzdem: Der Schock über das Ausmass an Landschaftszerstörung, das wir auf der Fahrt beobachtet haben, wirkt nach. Kein Mensch spricht von Kahlschlag, wenn er von NZL erzählt, dabei sind die Umweltschäden nicht zu übersehen. Im Internet lesen wir, dass die Nelson Pine Industries mit 175’000 Hektar schnellwüchsiger Pinus radiata einer der weltgrössten MDF-Platten-Hersteller an einem Einzelstandort ist und ihre Produkte in die ganze Welt verkauft.
Die traurigen Radiata Kulturen gehen nahtlos in die herrliche Natur des Abel Tasman Nationalparks über. Ein Riesenproblem, sagt unsere Zimmerwirtin, denn die Kiefern entziehen dem Boden enorm viel Wasser, verbreiten sich rasant und verdrängen die anderen Pflanzen. Der Nationalpark selbst ist ein Traum: Herrlicher Sand, eindrucksvolle Vegetation (vor allem wieder die Baumfarne!), traumhaft schöne, weite Robinson-Crusoe-Buchten, an denen man sich vom Schiff aussetzen lassen kann, wunderbare Wege, auf denen man zurück zum Eingang des Parks oder weiter zu den raren Hütten –gegen Voranmeldung – wandern kann. Das Vergnügen der Bootsfahrt ist nicht ganz billig, wie stets, und muss rechtzeitig organisiert sein. Paddeln kann man auch. Am nächsten Tag verhindern Regen und Sturm unsere Schifffahrt in den Park. Mit Glück und der Hilfe unserer Wirtin können wir unsere Tickets umbuchen, was sonst nicht geht, und erleben am übernächsten Tag den schönsten Sommertag unserer Reise durch den ansonsten kühlen, trüben und verregneten neuseeländischen Hochsommer.

 
Wald und Meer
Natur gibt es nur in geschützten Gebieten. Mischwald und frei zugängliche normale Wälder wie bei uns haben wir ausserhalb der Nationalparks und Schutzgebiete nicht gesehen. Monokulturen für Holz, Obst und Gemüse und Massenhaltung von Rind, Wild und Schaf in busch- und baumfreien Weiden prägen das oft eintönige Landschaftsbild. Bauernhöfe im klassischen Sinn sieht man nicht, sondern hochindustrialisierte Grossbetriebe. Der Landwirt ist Unternehmer und kein Landschaftspfleger.
Umso grossartiger und frappanter dann der Kontrast, wenn man ein geschütztes Stück Natur erreicht. Wie etwa die fantastisch schöne Westcoast zwischen Westport und Haast Beach. Früher war die wilde Küste an der rauen Tasmanischen See fest in Glücksritterhand. Kohle, grüne Jade und vor allem Gold haben Schiffe und Abenteurer in Scharen an den einsamen, aber immerhin im Gegensatz zum Südwesten zugänglichen Küstenabschnitt gelockt. Leider bleibt auf unserer Fahrt keine Zeit, die alten Goldminen und Bergwerke von Westport, Charleston, Greymouth oder Shantytown (sehenswertes Museumsdorf) zu besuchen, ein Abstecher in die Jadestadt Hokitika muss reichen, wo Schilder am Meer informieren, dass hier zu Zeiten des Goldrauschs jeden zweiten Tag ein Schiff Schiffbruch erlitten hat. Die Tasmanische See zeigt sich überaus rau.
Wir kommen spät in Barrytown an, einem Kaff an der wunderschönen Westküste, in dem es ausser Nebelwald mit üppigster Vegetation und ein paar Häusern nichts gibt. Zum Abendessen ist es um halb neun zu spät, in der einzigen Beiz weit und breit, der Punakaiki Tavern, ist ausser grottenschlechtestem Fish’n’Chips nichts zu bekommen, obwohl die Töpfe mit den Tagessuppen noch warm sind. Diese Erfahrung machen wir mit regelmässig: „serve to late“ bedeutet nichts. Sogar in Universitätsstädten wie Dunedin klappt man um halb neun, spätestens um neun Uhr abends den Gehsteig hoch. Dann gibt es allenfalls noch eine Kleinigkeit beim Vietnamesen oder Chinesen, auch die coolste Burgerbude wehrt die Kunden konsequent ab neun Uhr ab.
Das B & B in Barrytown bietet uns eine Zeitreise in die 70er Jahre. Mitten hinein in die Zeit des „bad taste“. Der Herbergsvater, ein Ingenieur, war verantwortlich für die Holzverarbeitungsmaschinen beim grössten Holzverarbeiter NZLs. Das Haus ist voller Einbauten aus MDF-Platten, auf die er uns stolz hinweist. Erst schwärmt er von der Westcoast und Barrytown als wunderbarem Ort zum Leben und gibt uns theoretischen Unterricht im Goldwaschen, das heute noch viele betreiben würden, dann bietet er uns Haus und Garten zum Kauf an.

 
Die Pancakes
Es lohnt sich, noch einmal nach Punakaiki zu den berühmten Pancake Rocks zurückzufahren, wo das Meer besonders ungestüm an Land tost. Einmaliges Brandungstheater erleben wir dort: Nach dem Sturm und Regen der letzten Tage schlagen die Wellenberge bei Flut vor Wut schäumend an die Küste. Die Gischt stieb zwanzig Meter und höher auf. Die tosenden Wassermassen haben im Lauf der Zeit Felsen zerklüftet und waagrecht übereinander geschichtet, hoch aufragende steinerne Nadeln, Holes, Caves und Blowholes ausgespült, spektakuläre Skulpturen geschaffen. Eine irrsinnig schöne Küste. Unterschiedlichste Wasserlandschaften wechseln miteinander ab, Flüsse münden in weiten, deltaartigen Flussbetten ins Meer, dann wieder stürzen sich reissende, rauschende Wildbäche ins Meer, wechseln sich Strandabschnitte mit Nihaupalmen, Küstenfarnwälder und romantische, subtropische Sumpflandschaften ab. Sandflies gibt es an dieser Küste überall. Mückenschutz ist an der Tagesordnung.
Die Mücken sind es auch, die uns eine Rast am bilderbuchmässigen Monroe Beach verwehren. Wir wandern deshalb lieber an der Okarito Lagune auf dem Okarito Trig Walk zu einem Aussichtspunkt hoch über der Küste hinauf. Von dort oben könnte man die Gletscher Franz Joseph und Fox sehen, wenn die Sicht klar wäre. Ist es aber nicht und auch sonst lassen uns die Gletscher ziemlich kalt. Aufregender als Heli-Wanderungen über Gletscherspalten im Hochgebirge, finden wir die Fahrt über den einsamen Haastpass.
Wie überall kann man die Natur, abgesehen von relativ kurzen öffentlichen Wanderwegen und Spaziergängen am Strand, nur mittels teurer Outdoorveranstalter entdecken. Wildnisabenteuer und Wanderungen mit Heliflügen oder riverrafting kombiniert, scheint sehr angesagt zu sein. Natur bedeutet Fun und Action. Die Hochburg eines auf lauten, adrenalinsüchtigen Outdoorfun ausgerichteten Tourismus ist Queenstwown, die Hauptstadt der Südalpen, umgeben von langgestreckten künstlichen und natürlichen Seen. Das Angebot reicht von Jetboating, Canyoning, Abseiling, Bungeejumping, Fallschirmspringen, bis zu Heli-Hiking und –kiing und eben Glacierflights mit Hikes.
Den Höhepunkt vieler Neuseelandreisen bilden Tagesausflüge zum Milford oder Doubtful Sund oder mehrtägige Treks im Fjordland Nationalpark, in der Regel von Queenstown oder Te Anau aus organisiert. Nach soviel Naturschauspiel ist uns nach Stadt zumute und deshalb fahren wir hinüber nach Dunedin und dann ins vom Erdbeben grossflächig zerstörte Christchurch an der Pazifikküste.
Auf der Fahrt quer durch den Süden der Südinsel fallen uns die vielen toten Tiere am Strassenrand auf: Possums, denen das Land den Kampf angesagt hat. Die putzigen, aber nicht endemischen Tiere gelten als Staats- und Biodiversitätsfeind Nr. 1 und werden erbarmungslos gejagt. Die marder- bzw. katzengrossen Raubtiere drohen den flugunfähigen einheimischen Kiwi-Vogel auszurotten. Es gilt als gute Tat, Possums zu schiessen, soviel man kann, Schonzeiten gibt es nicht.
Possumfelle sind in der neuseeländischen Textilindustrie begehrt. Teure, neu entwickelte Possum-Wolle-Gewebe sind das ultimative Must-Have von Outdoorkleidungfreaks. Und was die gute alte Wolle angeht, so erfahre wir in einem Woll-Schopf in Oamaru an der Pazifikküste, nachdem wir gerade wegen des Fotoapparats dezidiert aus der Trödel-Ramsch-Antiques-Halle nebenan recht hinausgebeten worden bin, dass die Wolle in China gewaschen und dann nach NZL zurücktransportiert wird.

 

(Spezifische Reisetipps siehe Teil 1. Literatur & Kunst Nr. 58/März 2016).

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