FRONTPAGE

«Ohne Schnurrbart»

Von Güzin Kar

 

Wer einen Schweizer Mann erobern will, muss ihm an die Wäsche. Er selbst wird keinen Finger rühren. Ein Erfahrungsbericht.

Er ist humorlos, geizig, verbissen, ehrlich und verlässlich, versteht nichts von gutem Essen, Trinken und Geplauder, hat wenig für Kunst und Musik übrig, aber viel für Steuererklärungen und Eheverträge, er fürchtet sich vor Armut, Bazillen und lauten Frauen, duscht mehrmals am Tag, ist ein guter Rechner, schlechter Erzähler und miserabler Liebhaber. Die Rede ist vom Schweizer Mann, und diese unvollständige Liste ist die Ausbeute einer spontanen Blitzumfrage im Bekanntenkreis, worunter sich selbstredend auch Schweizerinnen und Schweizer befinden. Und wäre er so, wie beschrieben, müsste man ihn sofort einschläfern oder zumindest verbieten lassen.

 

Das erste Mal, dass ich von der Existenz des Schweizers erfuhr, war in meiner jüngsten Kindheit in der Türkei. Wir standen kurz davor, in die Schweiz auszuwandern, wo mein Vater als Pfleger dringend gebraucht wurde. Die Koffer waren gepackt, wir Kinder gewaschen und entlaust, alles war exportfertig, als einer meiner Onkel in seinem Tee rührte und sagte: «Ich habe gehört, dass in der Schweiz die Männer keine Schnurrbärte tragen.»

 

Es war der Dolchstoß, die Entmannung aus der Ferne, und sofort entbrannte im Verwandtenkreis eine wilde Debatte darüber, ob eine ganze Nation ohne Schnurrbart überhaupt existieren könne und wie lange sie allenfalls überlebensfähig wäre. Ich wusste noch nichts von zur Schau gestellter Männlichkeit und Weiblichkeit und überließ diese Frage der Welt der Erwachsenen. Sie wurde für mich erst wieder aktuell, als ich ins Alter kam, wo ich mich fürs andere Geschlecht zu interessieren begann.

 

Mein Vater – klug genug zu wissen, dass ich, wie alle Heranwachsenden, Verbote als Aufrufe verstehen würde – nahm mich eines Tages zur Seite und sagte: «Wenn es denn unbedingt sein muss, dann geh mit Schweizern aus».

 

Wenn ein Vater seiner Tochter ausdrücklich zum Umgang mit einer bestimmten Spezies Mann rät, dann kann das nur eines heißen: Er nimmt jene als Mann nicht ernst. Ein fahrlässiges Verhalten, könnte man denken, da es natürlich auch einheimische Unholde, Vergewaltiger und Schänder gibt. Nur hatte ich zu jener Zeit gerade eine Vorliebe für afrikanische Reggae-Musiker, pakistanische Hippies, Pariser Drogenconnaisseure und andere kosmopolitische Nachtgestalten entwickelt, angesichts deren die Nachbarssöhne tatsächlich vertrauenerweckender wirkten.

 

Da ich meinen Vater nicht gänzlich enttäuschen wollte, ging ich mit Daniel aus. Daniel war etwas älter als ich, gehörte zu den attraktivsten und begehrtesten Jungen unserer Schule und besaß bereits ein Auto, mit dem er mich nach dem Kinobesuch bis vor die elterliche Haustür fuhr. Dort verabschiedete er sich so, wie sich alle Schweizer verabschieden: «Ja, also, dann». Pause. Ich: «Das war ein schöner Abend». Er: «Ja». Pause. Ich: «Schade, dass er so schnell vorüberging». –«Ja, das ging schnell».– «Wir könnten noch irgendwo etwas trinken». – «Ich muss morgen leider früh aufstehen. » –«Also, dann». –«Also, dann».

 

Es müssen diese «Also, dann»-Gespräche in mannigfaltiger Abwandlung gewesen sein, die einst zu der Einsicht führten: «Wenn du einen Schweizer willst, musst du ihm an die Wäsche». Er selber rührt nämlich keinen Finger, wehrt sich zum Glück aber auch nicht. Diesen etwas furchterregenden Satz würde ich gerne einer anonymen polnischen Taxichauffeuse unterjubeln, er stammt aber leider von mir. Ich hatte ihn auf der deutschen Filmhochschule, wo ich studiert habe, notiert, in einem Komödienseminar, in dem jeder ein typisches Geschlechter-verhalten seines Herkunftslandes beschreiben sollte.

 

Natürlich gibt es über jede Nation Vorurteile und Klischees, und zu jedem Paradebeispiel finden sich ein Dutzend Ausnahmen. Die Humoristin in mir stürzt sich mit Wonne auf Klischees, die Frau in mir sagt, die Realität sei vielfältiger, graustufiger. Und letztlich besser.

 

Es gibt vielleicht zwei ganz persönliche Ansichten über den Schweizer, denen sowohl die Humoristin als auch die Frau in mir zustimmen können. Erstens: Das Flirten zählt nicht zu den Kernkompetenzen des Schweizers. Wenn er es versucht, kommt etwas heraus, das klingt wie: «Hoi, Luscht uf es Käfeli»? Natürlich kann man die Schuld an der Misere dem Feminismus zuschieben, der alle Männer kastriert und zu Käfelitrinkern gemacht habe. Nur scheint die ungleich viel stärkere feministische Bewegung in Frankreich einen gegenteiligen Effekt bei den Männern ausgelöst zu haben.

 

Nein, der Schweizer flirtet nicht gerne, weil er sich nicht gerne exponiert und weil er nicht gerne spielt. Das uralte Spiel um Eroberung und Zurückweisung, um Strategie, List und messerscharfe Ehrlichkeit, dessen Regeln und Grenzen ständig neu definiert werden müssen, ist dem Schweizer suspekt. Er mag es klar und übersichtlich. Allerdings hat die mangelnde Flirtkultur manchmal sogar ihr Gutes, denn spätestens wenn man mit Männern zusammenarbeitet, weiss man die Mischung aus Kollegialität und verhaltener Aufmerksamkeit zu schätzen.

 

Es ist ja auch nicht so, dass man als Frau an jeder Ecke begattet werden will, ebenso wenig, wie man als prüde, frigide oder genmutiert abgestempelt werden möchte, nur weil man es nach einem lustigen Abend mit Freunden vorzieht, alleine aufzubrechen, und zwar möglichst ohne begleitende Grundsatzdebatten über den Sinn ehelicher Treue.

 

Meine zweite, persönliche Erkenntnis über den Schweizer: Er begegnet Anfeindungen und Unterstellungen wie den eingangs erwähnten mit großer Gelassenheit. Ich würde mich jedenfalls nie getrauen, in einer Bar in Rom über die miserablen Liebhaberqualitäten der Einheimischen zu referieren. In Zürich geht das. Und die Zürcher regen sich kaum auf. Oder höchstens ein bisschen. Sich aufregen tut der diskrete Schweizer lieber anonym in Internetforen. Aber im direkten Gespräch nehmen es die meisten mit Selbstironie. Als ich einem guten Schweizer Freund einmal als Geburtstagsgeschenk eine Kollektion an Klebeschnauzern überreichte, verstand er den Humor jedenfalls und freute sich darüber.

 

Erstveröffentlichung in DIE ZEIT, Nr. 40 vom 29. September 2011

 

Güzin Kar wurde 1971 in der Türkei geboren und lebt seit  ihrem fünften Lebensjahr in der Schweiz. Sie studierte an der renommierten Ludwigsburger Filmakademie und arbeitet heute in Deutschland und der Schweiz als
Drehbuchautorin (u. a. Die wilden Hühner) und  Regisseurin. 2006 erschien bei Kein & Aber der Roman „Ich dich auch“, der wochenlang die Nummer 1 auf der Schweizer Bestsellerliste war und von Ulrich Limmer (Schtonk, Comedian Harmonists, Das Sams) verfilmt wird. Güzin Kar lebt vorwiegend in Zürich.

 

Als einzige Autorin gewann sie zweimal den Drehbuchpreis der Schweizerischen Autorengesellschaft SSA: 2003 für „Alles bleibt anders„, 2005 für „Fliegende Fische“ oder „Fliegende Fische müssen ins Meer“, das 2010 mit Elisa Schlott undMeret Becker in den Hauptrollen verfilmt wurde und im Sommer 2011 in Deutschland und in der Schweiz in die Kinos kam.

NACH OBEN

Reportage


Buchtipp


Kolumnen/
Diverses