FRONTPAGE

«Ouvertüren der Sprachkunst»: Paul Nizons Journal 2000-2010

Von Ingrid Isermann

 

Paul Nizon ist der Grandseigneur unter den Schweizer Autoren. Und er ist einer der bedeutendsten Schriftsteller dieser Zeit, ein Flaneur, ein Wortzauberer, der flirrende Wortkaskaden als Sprachmusik rauschen und raunen lässt. Seine Sprache ist verführerisch, die Offenheit frappant. Ziemlich untypisch für die Schweiz. Paul Nizon, 1929 in Bern geboren, lebt seit 1977 in Paris.

Sein vieldiskutierter, kulturkritischer «Diskurs in der Enge» (1) wurde von der Kritik kontrovers aufgenommen, heute ist er Kult. Das könnte bald ebenso für Paul Nizon als Sprachkünstler gelten: Am Schreiben gehen, schreibend durchs Leben gehen und das Leben im Schreiben wiederfinden. Dass er seine eigene Person dabei seziert, analysiert und Mass an sich selbst nimmt, wird ihm oft auch als Egomanie ausgelegt. Was dennoch viel mehr bedeutet als nur das. Paul Nizon erinnert sich im neuen Journal an seine Anfänge in Paris.

 

24. Januar 2000, Paris:
«(…) Allein in Paris. Ich befand mich im Zustand der Selbstauflösung, ich lief innerlich aus wie ein lecker Behälter (…). Und in diesem Zustand sah alles, sah vor allem die Zukunft bedrohlich aus. Würde ich mich aufraffen und aus der Falle befreien können? (…) Vor diesem Hintergrund ist das erste fluchtartige Spazieren zu verstehen. Es ging nicht einfach um Erkundungsgänge, es ging – mit Hilfe von Ausläufen in einem beschränkten Radius – um ein Buchstabieren von Wirklichkeit und mir zugehöriger Weltwirklichkeit, es ging demnach um die schrittweise Erschaffung gewissermassen aus NICHTS, Creatio ex nihilo. Und das Festmachen geschah nach dem kleinen Erfahrungs- und Augenfutter draussen mit Worten.
Eine verzweifelte Aufgabe. Eine Verzweiflungstat. Die Überwindung der Unwirklichkeit und deren Schrecken (oder Schreckensherrschaft). In diesem Sinne ist das Auslaufen ein Nach-Worten-Laufen. (…) Ich muss den Blick ändern. Ich muss die Wirklichkeit erfinden».

 

Seit 50 Jahren, seit 1961, schreibt Paul Nizon Tagebücher, Werkstattprosa, sogenannte Journale. Das jetzt erschienene Journal «Urkundenfälschung 2000-2010» ist das vierte dieser Art. Nizon erklärt selbst, gleich auf der ersten Seite des Journals, worum es ihm geht:

 

4. Januar 2000, Charenton
«Dass so leicht keiner heutigentags vergleichbar der Schreibschöpfung also wohl Dichtung hingegeben lebt (anachronistisch?), wird erkannt und erwähnt, weniger jedoch, dass daraus mein Sprachmenschentum hervorgeht. Mein Schreibleben und Lebschreiben ist letztlich ein Sprachringen und ich ein Sprachmensch ganz und gar. Und am Anfang war das Wort».

 

Motions – Emotions
Diese Sprache, jung und geschmeidig, subtil und nicht ironiefrei, eilt voraus und entdeckt neue Horizonte, überall, in den Stadtbildern des geliebten Paris, in Imaginationen und Beobachtungen des Alltags. Oder in klarsichtigen Porträts von Schriftstellerkollegen und Begegnungen, in berückend-bedrückenden Traumsequenzen; auch in der Sprachwerkstatt des Romans «Das Fell der Forelle», in den persönlichen Abgründen der Trennung und den Gefilden der Einsamkeit, im Protokoll des Umzugs von Montmartre nach Montparnasse, den Auslotungen, was Leben bedeutet. Und Schreiben. Ein Zeitreisender und ein Fremdling zugleich, sich stets neu erfindend. Was Sprache alles vermag, sie schickt Serotonin und Dopamin, die chemischen Botenstoffe. Paul Nizons Texte können aufregen, anregen und manchmal einfach glücklich oder traurig machen. Eine Prosa des Suchens und des Sich-Findens, sich darzustellen mit allen Irrungen und Wirrungen in den verschlungenen Lebenspfaden.

 

11. November 2006, Nationalfeiertag, Paris
«Ist die Frau dank ihrer Schönheit und mit der Macht der Liebe nicht nur die Erlöserin (aus dem Mangelnden), sondern geradezu die Erfinderin deiner selbst, und zwar als vollwertiges Mitglieder der Menschheit, als Mitmensch? Mann? Die Geburt des Mannes aus den Netzen der Liebe. Oder den Schleiern, Hamonien der Liebe? Ich deliriere. Es hat mit Erweckung zu tun. Muss mich nach der abgründigen Verunsicherung, die dem ewigen Begehren vorausgeht und Pate steht, fragen. Es geht ja weit über den Sexappeal hinaus, was ich die Depesche nenne, es hat aber mit der geschlechtlichen Vereinigung und deren Verheissung zu tun. Ich spreche andauernd in biblischen Termini. Sei’s. Mein Ausgangspunkt war ja die Frage, welche Macht es vermag, mich nicht nur vom Wege, sondern von allen Zugehörigkeiten abzubringen, was es mit der notorischen Untreue auf sich hat. Hatte ich mich nie wirklich vermählt? Blieb der Fremdling in mir immer quälend lebendig? Oder wäre der Fremdling einfach der Jüngling, der ewige Lebensanfänger, einer, der nie Fuss gefasst hat? (…) Statt Fremdling käme der Begriff des Einsamen in Frage und damit des Strolchs. Gewiss ist, dass das Begehren ungestillt andauerte und damit die Disponibilität zum Weglaufen. Zur Untreue. Oder wäre das Verlangen einfach das Verlangen nach mehr (nach dem Höchsten)? Ich wollte natürlich nicht eingefangen werden (heisst es im ‚Fell der Forelle’). Wollte nicht Fuss fassen, sondern auf den Flügeln der Liebe enteilen. Verschwinden».

 

Auf die Frage nach Heimat antwortete Paul Nizon am Abend des 15. März 2012 im vollbesetzten Theater am Neumarkt in Zürich, dass ihm zuerst Kindheitsängste in den Sinn kommen, – sein Vater ein russischer Exilant aus Lettland, seine Mutter eine Bernerin, – und eben die Sprache als Heimat. Dass er alles, was ihm geschehe, versprachlichen müsse. Das Schreiben als existentielle Bedingung. Und er erzählt auch von seinen Treffen mit der legendären Gruppe 47, mit Martin Walser, Ingeborg Bachmann und Max Frisch, die ihn zu Siegfried Unseld und dem Suhrkamp-Verlag brachte. Als Wahlpariser sei er dennoch der deutschen Sprache treu geblieben. Übrigens gehört Paul Nizons «Das Jahr der Liebe» (1981) zum Lesestoff in Schweizer Gymnasien.

 

18. Juli 2008, Paris

«Die leere Seite, die erste Seite, wie aber, wenn sie leer wäre – gemeint ist „wie wenn das Buch meines Lebens sich aufschlüge“ aus der ‚Forelle’ – hier liegt die Last, liegt der Packer verborgen: hier der Grund des inneren Unglücks, der die Selbstverfesselung und damit die Verhinderung des epischen Erzählens verursacht; die leere Seite, Sog der inständigen Introspektion, auf die Doris Krockauer anspielt; und aus diesem Erbübel habe ich meine eigenste Weltsicht entwickelt, das Glückssuchen des seligen Inneseins, was auch Selbstbefreiung meint; habe ich meine eigenste Thematik erfunden, das Tauchen nach dem goldenen Ring durch die Strudel der Finsternisse; die Vorproviantierung fürs Weiterleben, die das Weiterschreiben als Wirklichwerdung mitmeint; eine Thematik der Ichsucht, die, wie Martin Simons meint, den heutigen Jungen auf den Leib geschrieben sei (ich sei eine Generation zu früh erschienen), nun, was ich damit sagen will, ist der Schmerz des Missverstandenseins, etwa im Falle Odiles oder anderer, wenn man mir die Unfähigkeit, aus meinem Gegebenheitskerker ins grosse Fiktionieren und „Verdienen“ (Geldverdienen) auszubrechen, als einen Mangel oder ein Versagen oder Verbohrtsein vorwirft und dabei die tiefe Not übersieht und die Anstrengung, aus der Not und Knebelung meine eigenste Dichtung und Musik zu gewinnen, diesen meinen funkelnden Aufstand, der mein Stärkstes ist, durch Nichtverstehen einfach wegwischt; es ist dann wie Verrat in meinen Augen, wie Hinrichtung; erkenne mich, schreit Stolp in der ‚Forelle’; die erste unaufgeschlagene Seite des Buchs meines Lebens ist die, die mich knebelt – und auf meinen eigensten Weg schickt, geschickt hat. Odile hat auch so eine erste leer gebliebene, nicht zu beziffernde Seite, an der sie nagt und leidet. Es sei diese Entsprechung, die uns zueinander gezogen haben mag, nebst der körperlichen Anziehung».

 

«Urkundenfälschung» hat der Autor sein Journal genannt. Ist es eine Art Selbstbezichtigung, eine manische Wahrheitssuche? Mit Handschellen sei er ans Leben und Schreiben gekettet, bekennt er. Das ist seine Obsession, seine Leidenschaft, exzessiv mit Sprache als Bewusstheit zu leben und somit auch von Sprache verwandelt zu werden. Wo bleibt der Ruhm, fragt sich Nizon im Journal. Die Sprachschöpfung als Ruhmesblatt bleibt.

Seine Sprachmelodie, tanzend auf den Funkenspitzen der Emotionen, eine Ouvertüre nach der anderen, sich drehend und wendend, immer beweglich, neigt sich hin und her, traumtänzerisch, macht plötzlich einen Sprung ins Nichts, in die Höhe, einen Luftsprung, und landet wie im richtigen Leben mitunter unsanft auf dem harten Boden der Tatsachen. Wer solche ins Leben verwandelte Sprache wie eine selten gewordene Köstlichkeit und Kostbarkeit erleben und erlesen will, dem seien Paul Nizons wundersame Journale und Bücher als Geheimtipp ausdrücklich empfohlen. Man kann sie wieder und wieder lesen, und immer wieder etwas Neues darin entdecken. Eine programmatische Alternative in Zeiten der Sprachverkürzungsmaschinerien wie Twitter und Facebook. Die Sprache, vielleicht das allerletzte Abenteuer? Ein altes chinesisches Sprichwort sagt, ‚der Drachen lehrt uns, wer hochsteigen will, muss es gegen den Wind tun‘.

 

 
Paul Nizon

Urkundenfälschung

Journal 2000-2010
Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Herausgegeben von Wend Kässens
375 S., geb., CHF 35.50 / Euro 24.95
ISBN 978-3-518-42260-1
www.suhrkamp.de

 

(1) «Die Eidgenossenschaft gilt uns und andern rundweg als die Wiege der Demokratie. Wir nehmen für uns in Anspruch, Pioniere von Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und sozialem Fortschritt zu sein. Und im 19. Jahrhundert waren wir in all diesen Belangen ja auch eine revolutionäre Kraft. Davon zehren wir heute noch, nur haben wir in der Zwischenzeit unsere fortschrittliche Position eingebüsst. Wir sind, milde ausgedrückt, eingeholt worden. Wir haben uns nicht mehr erneuert seither, wir haben uns konsolidiert. Mit der damaligen Position verglichen, sind wir in Stagnation geraten, doch gestehen wir uns diese Lage nicht ein. Unsere Reaktion ist Verdrängung dieser Wahrheit, und ein Ausdruck dieser Verdrängung ist die immer rigorosere Selbstabkapselung, und zwar unter der nationalen Devise der immerwährenden Neutralität». (Aus: Paul Nizon. Diskurs in der Enge, Verweigerers Steckbrief. Suhrkamp Verlag 1990).

 

 

Paul Nizon, geboren 1929 in Bern, studierte Kunstgeschichte und promovierte über van Gogh. Seit 1963, als sein Buch «Canto» erschien, schuf er sich mit einer Reihe von Werken einen Namen als Erzähler von europäischem Rang. Seit 1977 lebt Nizon in Paris und wurde u.a. mit dem französischen Orden ‚Chevalier des arts et des lettres‘ ausgezeichnet.

Der «Verzauberer» (Le Monde) erhielt für sein Werk, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, kürzlich den ‚Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur‘ (2010).
Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag: Goya (2011). Romane Erzählungen, Journale (2009). Die Zettel des Kuriers. Journal 1990-1999 (2008). Das Fell der Forelle. Roman (2005).

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