FRONTPAGE

«Tanz um Tabu-Themen»

Von Marion Löhndorf

 

Die britische Debatte um «Political correctness» verschärft sich. Führt die Vorsicht im Umgang miteinander zu realitätsverzerrenden Euphemismen oder gar zur Einschränkung der Redefreiheit? In Grossbritannien ist die Diskussion um politische Korrektheit in vollem Gange.

Die Debatte um die Political Correctness hat auch England erreicht, lange schon. Sie schwappt durch die Medien, die Unis, die Alltagsgespräche. Oft kommen Impulse aus den Vereinigten Staaten, wo das Thema virulent ist. So sind denn in grossen Artikeln in der Tageszeitung «The Guardian» Amerikaner wie der Humorist und Autor Dave Schilling und die Kolumnistin Rebecca Carroll Wortführer. Aber auch die einheimischen Autoren mischen unterdessen bei jeder Gelegenheit mit. Wo die einen angebliche Verstösse gegen die Political Correctness monieren, verweisen die anderen auf die Gefahren einer ins Unsinnige, ja Verwerfliche übersteigerten Rücksichtnahme.

 

 

Totgeschwiegene Verbrechen
So etwa im Fall des Missbrauchsskandals in Rotherham, wo zwischen 1997 und 2013 zahllose Kinder jahrelang sexuell ausgebeutet wurden. Einige Verantwortliche hatten noch im Jahre 2014 angegeben, aus Angst vor Rassismusvorwürfen nicht gehandelt zu haben, da die Täter pakistanischer Herkunft gewesen seien. Waren da die Normen einer «gerechten» Sprache, die alles Abwertende verbietet, in fatales Handeln – oder Nichthandeln – übersetzt worden? Als der Skandal ans Licht kam, war der Konsens über die Ursache allerdings keineswegs so unumstritten, wie inzwischen behauptet wird.
Während die Bürgerlichen das Problem im staatlichen Fürsorgesystem und einem fehlgeleiteten linken Multikulturalismus sah, hielten linksliberale Stimmen die Erklärung, dass die verantwortlichen Behörden aus Furcht vor rassistischen Anschuldigungen nicht eingegriffen hätten, für ein Scheinargument aus dem konservativen Lager.

Der «Independent» und später die «New York Times» vertraten die Ansicht, dass das Problem nicht isoliert von Klasse, Geschlecht und dem ethnischen Faktor zu betrachten sei. Die Missbrauchsopfer von Rotherham seien von den Tätern als «white trash» gehandelt worden, im Einvernehmen den Behörden: «Es ist, als stimmten alle überein darüber, wer wertlos sei und wer nicht; wer gerettet werden könne und wer nicht. Die Polizei, die lokalen Behörden, die Regierung und die Banden der Missbrauchstäter scheinen dieselbe Ideologie über sexuelle Reinheit und ihren Wert zu teilen», kritisierte die Kolumnistin Suzanne Moore im «Guardian». Mindestens ein Polizist war selbst am Missbrauch beteiligt. Auch die Labour-Partei musste sich harte Fragen stellen. Sie habe eine grosse Zahl asiatischer Gemeindeleiter in ihren Reihen willkommen geheissen, die oft selbst Opfer von Rassismus waren. Doch nach ihrer Einstellung zu Frauen, Gay-Rights und Gleichberechtigung habe man sie nicht gefragt: Im Kampf gegen den Rassismus haben jene vor anderen Arten von Diskriminierung die Augen verschlossen. Auch wenn dabei nicht von aktiver Diskriminierung die Rede war, so implizierten die Vorwürfe doch gewissermassen eine Unterlassungssünde.

Hinzu kam, dass Missbrauch lange ein Tabuthema war. Das Reden darüber sei für einen grossen Teil der Gesellschaft so schlimm wie der Kindesmissbrauch selbst, schrieb der Konzertpianist James Rhodes, der selbst bis heute an den Folgen schweren Missbrauchs leidet. Rotherham könnte also letztlich als Warnsignal nach beiden Richtungen hin verstanden werden: Der Fall zeigt das Risiko einer durch politische Korrektheit motivierten Blindheit, aber auch die Gefahr, dass die Debatte dann auf eine vereinfachende, ideologisierte Ebene gehoben wird, wo eigentlich von Fall zu Fall divergierend, wie am Beispiel Rotherham gezeigt – viele unterschiedliche Faktoren zu berücksichtigen wären: das Verhalten einzelner Beteiligter, die soziale und ethnische Herkunft und das Geschlecht von Tätern und von Opfern, sowie die Bereitschaft, die Kluft zwischen Norm und Praxis zu erkennen und benennen.
Ob die Diskussion über Sprachtabus und Political Correctness in Grossbritannien lediglich an Schwung gewonnen hat, oder ob sich schon ein Paradigmenwechsel abzeichnet, lässt sich noch nicht sagen. Die Argumente auf beiden Seiten haben jedenfalls an Schärfe zugelegt. Einerseits werden bisher tolerierte Regelbrüche – auch von Komikern, Fernsehmoderatoren oder Pop-Sängern – nicht mehr ohne weiteres akzeptiert; anderseits mehren sich die Stimmen, die ein Zuviel an politischer Korrektheit geisseln und ridikülisieren.

Ein Komiker wie John Cleese konnte früher noch ungestraft Witze über Deutsche, Mexikaner und Franzosen reissen,wie er in einer Fernsehsendung erzählte: «Ich kam zum Beispiel auf die Bühne und sagte: ‚Die Franzosen, wissen Sie, warum die soviele Bürgerkriege hatten? Damit sie ab und zu mal einen gewinnen können‘.» Heute kann er sich solche Scherze an den Hut stecken. Zwar ist Cleese kein per se erklärter Gegner der Political Correctnes, aber er findet: «Es beginnt als eine halbwegs anständige Idee und dann geht es so komplett schief.»

(Siehe auch den Filmbeitrag «Spotlight» zu diesem Thema).

 
Unis als Kuschelecken
Britische Universitäten seien komplett vom Fieber der Political Correctness ergriffen worden, berichteten in jüngerer Zeit konservative Tageszeitungen wie der «Daily Telegraph» und die «Daily Mail». Studierende wünschten sich dort geistige Kuschelecken, die sie von den Diskussionen der harten Wirklichkeit abschirmen würden. Referentinnen und Referenten mit verpönten Ansichten würde keine Plattform mehr geboten.

Es ist die Rede von immer längeren Listen unerwünschter Personen, tabuisierter Themen und Begriffe auch an den Elite-Universitäten Oxford und Cambridge: An der Uni von East Anglia wurde das Tragen von Sombreros, die ein mexikanisches Restaurant ausgegeben hatte, untersagt: Die Studenten-Union hatte dies für rassistisch erklärt. In Oxford wurde eine Diskussion über Abtreibung abgebrochen, nachdem Studentinnen sich über die Gegenwart einer «Person ohne Uterus» – eines Mannes – auf dem Podium beklagt hatten. Der des Rassismus bezichtigte Historiker David Starkey und die Feministinnen Germaine Greer und Julie Bindel, die sich kontrovers zu Transgender-Themen geäussert hatten, sehen sich an einigen Unis bereits auf dem Index der «Verbannten».

 
Mehr als dreissig Studentenvereinigungen placierten dort auch Robin Thickes mit Sex-Tabus kokettierenden Pop-Hit «Blurred Lines», da er weibliche Studierende verunsichere. Die selbst nie zimperliche «Daily Mail» berichtete von Zeitungsverbrennungen in Cambridge und am Goldsmith’s College in London (wobei deren Ausmass nicht geschildert wurde) und zog die so erwartbare wie unangemessene Parallele zu den Bücherverbrennungen der Nazizeit. Der «Independent» gab seinen Lesern gleich ein Glossar zur Erklärung der wichtigsten Schlagwörter in der Debatte an die Hand: Von «trigger warnings», die vor möglicherweise Anstoss erregenden Stellen in Büchern warnen, bis hin zu «microaggressions», unbeabsichtigten Ausrutschern gegen die Political Correctness, ist da die Rede, von «no-platforming», das die Ausschliessung unliebsamer Redner meint und eben von aggressionsfreien «safe spaces», die noch am vergangenen Samstag von Richard Dawkins, einem der einflussreichsten Evolutionsbiologen der letzten Jahrzehnte, in der «Times» als «erbärmlich» bezeichnet wurden.

 

 
Realsatire
Es sind nicht immer die hochmögenden Institutionen, die solche Streitigkeiten anstossen. Manche Anlässe kommen der Realsatire nahe. Vor ein paar Monaten traf es etwa eine Kochsendung im Fernsehen – «The Great British Bake-Off», eines der unverfänglichsten Programme, die man sich bis dahin vorstellen konnte. Die Finalisten der Show, in der um die Wette gebacken wird, passten vielen Zuschauern nicht in die Optik – «die letzten drei Teilnehmer sind ein Triumph der Political Correctness», giftete Amanda Platell in der «Daily Mail» und unterstellte damit ein abgekartetes Spiel des Fernsehsenders: «Übrig blieben die muslimische Mama Nadiya Hussain, der schwule Arzt Tamal Ray und der ‹neue Mann› Ian Cumming.»
Auf Twitter stürmte es, vielfach zustimmend. Der drohende Verlust der britischen Identität wurde beschrien. Dabei, so konterte eine – muslimische – Journalistin der Tageszeitung «The Independent», sei doch gerade die Toleranz ein Kennzeichen der «Britishness», und die Kandidaten der Kochsendung seien typisch für die multiethnische, multireligiöse Demokratie, «auf die wir alle stolz sein können». Der Fall, eine Marginalie eigentlich, ist dennoch emblematisch und verweist auf eine Diskrepanz zwischen der Idealwelt, die im Vokabular der Political Correctness beschrieben wird, und einer Wirklichkeit, in der diese Ideale noch längst nicht angekommen sind. Ob sich das Ideale dem Realen anpasst oder das Reale dem Idealen – wir werden sehen. Fortsetzung folgt, die Debatte hält an.

 

(Erstveröffentlichung NZZ 3.2.2016 mit freundlicher Genehmigung der Autorin).

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