Arno Henschel, Dame mit Maske, 1928, Ausstellung "Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum" Kunsthalle Mannheim.
Karl Hubbuch, Die Schwimmerin von Köln, 1925/25, Ausstellung "hart & direkt", Kunsthalle Mannheim,
August Sander, Sekretärin beim Westdeutschen Rundfunk in Köln, 1931, Ausstellung "Sachlich Neu", REM.
Prof. Dr. Claude W. Sui, Kurator "Neu Sachlich", REM, vor einer Aufnahme von Elvis Presley 1958 in Mannheim von Robert Häusser.
Dr. Gunnar Saecker (li), Kurator der Ausstellung "hart & direkt", und Johan Holten, Direktor Kunsthalle Mannheim.
«Neue Sachlichkeit in Mannheim: Jubiläum im Rausch der 1920er Jahre»
Von Ingrid Schindler
100 Jahre nach der Ausstellung «Neue Sachlichkeit» greift die Mannheimer Kunsthalle das Thema wieder auf. Ausgehend von den beiden neuen Ausstellungen «hart & direkt» und «SACHLICH NEU» veranstaltet die Kunsthalle gemeinsam mit einem breit abgestützten Partnernetzwerk ein fulminantes Revival der Roaring Twenties.
Quick and dirty im Sündenbabel
In Mannheim ist der Teufel los. Das Publikum lernt die Wilden Zwanziger Jahre von allen Seiten kennen. Auf den Gleisflächen des Museums für Technikgeschichte Technoseum wird zum Hämmern der Maschinen abgetanzt, Tanzlehrer zeigen, wie man korrekt kokett die Beine schwingt. Das Kabarett-Theater Schatzkistl lädt mit Swing, Jazz und Gassenhauern der Roaring Twenties zur Burlesque-Nacht, während die Alte Feuerwache «la Nuit Bohème» im Stil und Dresscode der 20er-Jahre feiert und im Capitol und Cinema Quadrat die Filmkunst der Weimarer Republik über die Leinwand flimmert.
Das Nationaltheater Mannheim (NTM) bringt das Paradestück der Zwanziger, die Brechts/Weills «Dreigroschenoper», im Ersatzspielort Altes Kino Franklin zeitgemäss queer auf die Bühne. Franklin war vor dem Abzug der Amerikaner die grösste Wohnsiedlung von US-Soldaten in Deutschland, das Alte Kino dient nun als Ersatzspielort der Schauspielsparte des NTM, während das Vier-Spartenhaus am Goetheplatz saniert wird. Hausregisseur Christian Weise hat Brechts Haifischbecken mitreissend und glamourös im Stil einer Revue à la Babylon Berlin inszeniert. Das Orchester des NTM lässt Tucholskys «Augen in der Grossstadt» und andere Texte der Goldenen Zwanziger, gelesen von Samuel Koch, in der Kunsthalle Mannheim erklingen und untermalt live Charly Chaplins Filmklassiker «Lichter der Grossstadt» musikalisch.
Das ist bei weitem noch nicht alles. Mannheim feiert furios und spartenübergreifend die 1920er Jahre. Kulturinstitutionen unterschiedlichster Art, Vereine, Clubs, Hochschulen und private Initiativen haben sich zusammengetan, um bis März 2025 und darüber hinaus ein Jahrhundertjubiläum zu begehen: Die Neue Sachlichkeit. Insgesamt beteiligen sich 35 Partnerinstitutionen an dem Megaevent, der die Stadt ein halbes Jahr in Atem hält.
In Mannheim wurde der Begriff erfunden
Vor 100 Jahren stellte die Kunsthalle Mannheim unter ihrem jungen Direktor Gustav Friedrich Hartlaub 125 Gemälde von 32 zeitgenössischen Künstlern aus, darunter Georg Schrimpf, Karl Hubbuch, Alexander Kanoldt, Franz Radziwill, George Grosz, Otto Dix, Christian Schad, Niklaus Stöcklin und Max Beckmann. Hartlaub war der Erste, der trotz aller Unterschiedlichkeit in den Vertretern der Malerei der Weimarer Republik gemeinsame Züge und künstlerische Ansätze erkannte: die Abwendung vom Expressionismus nach den Schrecken des 1. Weltkriegs, die Hinwendung zu nüchtern-emotionsloser, schonungslos-präziser Darstellung der Realität.
Hartlaub unterschied schon damals zwischen einem klassizistischen, rechten Flügel, der Interesse an völkisch-nationalen Werten und altdeutscher Kunst bekundet, und einem veristischen, linken Flügel mit Fokus auf Gesellschaftskritik und sozialen Missständen. Fernlandschaften, die mit wenigen klaren Linien und Flächen maximale Distanz erzeugen und das Unpersönliche und Strukturelle hervorkehren, stehen ebenso für neusachliche Kunst wie nahsichtige, stark typisierte, ins Groteske zielende Porträts. Als Titel wählte Hartlaub für die Ausstellung 1925 das Etikett «Neue Sachlichkeit» und prägte damit den Begriff einer ganzen kunsthistorischen Epoche.
Tanz auf dem Vulkan
Die Neue Sachlichkeit ist der künstlerische Ausdruck einer hochbewegten, politisch wie gesellschaftlich unvergleich dramatischen Auf- und Umbruchsphase der deutschen
Geschichte, die viele Menschen heute nach wie vor fasziniert: Die Zeit der Weimarer Republik, der ersten parlamentarischen Demokratie im Deutschen Reich zwischen Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918 und Hitlers Machtergreifung 1933.
Geprägt durch die traumatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs, wirtschaftlichen Aufschwung, Emanzipation und Tabubrüche, ungeahnte Lebendigkeit und eine bis dahin nie dagewesene Freiheit einerseits, Börsencrash, Depression und Arbeitslosgkeit, Antisemitismus und Nationalsozialismus andererseits gleicht diese Zeit einem Tanz auf dem Vulkan zwischen Hoch und Untergang zugleich.
Die Ausstellung von damals erfuhr grosse Beachtung in der Kunstwelt. Die «Neue Sachlichkeit» setzte sich von Mannheim ausgehend als Begriff für die Kultur der Weimarer Republik durch, von der Malerei, Grafik, Literatur, Fotografie und Architektur bis zum Film. Auch in Österreich, der Schweiz, Belgien, den Niederlanden, Italien oder den USA arbeiteten namhafte Künstler im neusachlichen Stil.
Kurz nach Hitlers Machtergreifung wurde Hartlaub als Direktor entlassen. «Fragment Felix», ein neues Schauspiel des Nationaltheaters, widmet sich dieser Zeit und der Familie Hartlaub. Es stellt Stationen im Leben von Hartlaubs Sohn Felix, dessen Verhältnis zum Vater und seine Rolle als Künstler im Führerhauptquartier ins Zentrum. Die Uraufführung findet am 5.Dezember 2024 in der Kunsthalle Mannheim statt.
Jahrhundertjubiläum mit hochkarätigen Ausstellungen
100 Jahre nach der bahnbrechenden Ausstellung greift die Kunsthalle Mannheim unter der Leitung von Johan Holten und Inge Herold das Thema als spartenübergreifendes Jubiläum erneut auf. Die damalige Schau wird diesmal in zwei Ausstellungen in der Kunsthalle neu bewertet, hinterfragt und ergänzt: «hart & direkt. Zeichnung und Grafik der Neuen Sachlichkeit» (20.9.2042 – 12.1.2025), kuratiert von Dr. Gunnar Saecker, und «Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum» (22.11.2024 – 9.3.2025), kuratiert von Inge Herold.
Sie werden flankiert von der Fotoschau «Sachlich Neu» (22.4.2024 – 27.04.25) in einem der vier Reiss-Engelhorn-Museen (REM), kuratiert von Prof. Dr. Claude W. Sui. Werke der beiden wichtigsten neusachlichen Fotografen, August Sander und Albert Renger-Patzsch, stehen dabei im Dialog mit Fotografien des gefeierten Mannheimer Fotografen Robert Häusser (Hasselblad-Preisträger für Fotografie).
300 Jahre Carl Theodor
Die Sonderausstellung «Wie Tag und Nacht – Leben in den Goldenen Zwanzigern» (7.2.2025 – 11.5.2025) im Marchivum zeigt 24 Stunden im Leben der Stadt in der Weimarer Republik und vervollständigt das Bild der Zwanziger Jahre.
Das Mannheimer Archiv ist im grössten Hochbunker der Stadt zuhause. In der Ausstellung «Typisch Mannheim» zeichnet es 400 Jahre Stadtgeschichte multimedial nach. Zusätzlich feiert Mannheim am 11. Dezember ein weiteres Jubiläum: den 300. Geburtstag von Kurfürst Carl Theodor (1724-1799), dem grossen, kunstsinnigen Wohltäter der Stadt. Mit dem aufgeklärten Fürsten ist Mannheims goldene Zeit verbunden, in der sie zum «pfälzischen Florenz» aufstieg und Künstler, Musiker, Baumeister, Freidenker von Schiller bis Mozart und Voltaire aus ganz Europa anzog.
Jahrhundertjubiläum Neue Sachlichkeit, Programm: www.1920er.art
Infos Mannheim: www.visit-mannheim.de;