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Marlene Dietrich und der Antikriegs-Autor Remarque: Man lebt sein Leben nur einmal»

Von Ingrid Isermann

Marlene Dietrich gehört zu den Ikonen Hollywoods, die zwischen Erotik und Kalkül in «Der blaue Engel» (1930) als Femme fatale berühmt wurde. Von ihrer Amou fou mit dem Romancier Erich Maria Remarque («Im Westen nichts Neues», 2028) handelt die Geschichte einer grenzenlosen Leidenschaft: «Man lebt sein Leben nur einmal».

September 1937. Die Filmfestspiele von Venedig sind gerade zu Ende gegangen. Auf der Terrasse des renommierten Grand Hotels Excelsior am Lido sitzt die Hollywood-Diva Marlene Dietrich mit Josef von Sternberg, der sie als Regisseur von «Der blaue Engel» zum Weltstar machte. Da tritt der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque an den Tisch, der mit seinem Antikriegsroman «Im Westen nichts Neues» Aufsehen erregte, stellt sich vor und beginnt einen charmanten Small Talk. Es ist der Beginn einer der faszinierendsten Liebesgeschichten des 20. Jahrhunderts.

 

Auf der Basis von Tagebüchern, Briefwechseln und der Erinnerung vieler Zeitgenossen erzählt Thomas Hüetlin im Stil einer quasi authentischen Reportage die Geschichte einer Amour fou zweier Lichtgestalten der deutschen Kultur, voller Ekstasen, Enttäuschungen und Neuanfänge im Wetterleuchten des heraufziehenden Unheils der Nazi-Diktatur. Remarque war bereit, sein Leben mit der Diva zu verbringen, der Filmstar Dietrich nahm es hingegen mit der Treue nicht so genau, kam jedoch auch nie von ihm los. Wie der liebeskranke von Sternberg später flamboyant über die Dietrich bemerkte: «Bei ihr ist Eis, wo bei anderen ein Herz schlägt».
 
Das Buch erzählt unterhaltsam die atemlose Tour d’Horizon von u.a. Berlin nach Paris, Antibes, Eden au Roc, Cannes, Porto Ronco nach Beverly Hills und New York vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges.

 

Cap d’Antibes 1939

Mit seinem Lancia «Puma» fuhren Remarque und die Dietrich 1939 nach Cap d’Antibes, wo man das Eden Roc gebucht hatte, ein exquisites Grand Hotel an den schroffen Felsen der Côte d’Azur. Die Brandung rauschte und Waghalsige riskierten einen Sprung von den Felsen oder sonnten sich am hauseigenen Swimming Pool mit Blick auf das azurblaue Meer. Auch die Berühmtheiten im Hotel hoben ihre Laune, der Schriftsteller Remarque stieg langsam zum Chef des Dietrich-Clans auf, zumindest wenn es ums Bezahlen ging. Weine und Champganer von bester Provenienz gehörten zur Grundausstattung. Die Feilchenfeldts kamen zum Lunch ins Eden Roc, seine jüdischen Kunsthändlerfreunde, auf der Flucht vor den Nazis wie er. Sie hatten zwei Jahre zuvor in Amsterdam geheiratet. Feilchenfeldts Frau Marianne Breslauer hatte Fotografieren bei Man Ray gerlernt.
 
Auch Joe Kennedy tauchte mit seiner Frau Rose und den Kindern an der Côte d’Azur auf und hatte ein Auge auf Marlene geworfen. Der Vater von John F. Kennedy war vor kurzem als Botschafter nach London berufen worden. Kennedy hatte in Harvard studiert, das Bankgeschäft gelernt, aber festgestellt, dass man dort zwar Geld verdienen konnte, sich dann aber mit der Unterstützung zwielichtiger Figuren in der Filmindustrie eingenistet und nebenbei die Schönheiten Hollywoods frequentiert. Mit der Schauspielerin Gloria Swanson hatte er ein Kind. Rose wachte darüber, dass die Kinder bei Tisch die weissen Servietten auf den Knien balancierten. 

 
Derweil steuerte Hitler im September 1939 auf einen grossen Krieg zu, zehn bis fünfzehn Jahre hatte er veranschlagt, die Welt in Trümmer zu legen und die Deutschen zum mächtigsten Volk zu machen. Und wenn nicht, dann wären sie es nicht wert, von ihm geführt zu werden. «Parade vor dem Führer», notierte der Propagandaminister in sein Tagebuch. «Sie dauert fast fünf Stunden. Stürme des Beifalls. Der Führer wird vom Volk gefeiert, wie nie sonst ein sterblicher Mensch vom Volk gefeiert worden ist».

 

Die gebürtige Berlinerin Marlene Dietrich hatte sich nach ihrem Durchbruch mit «Der blaue Engel» mit ihrem Entdecker und Förderer Regisseur Josef von Sternberg nach Los Angeles abgesetzt und stieg zu den Diven in Hollywood auf, deren Ruhm grösser wurde als ihre Spielfilme. Als überzeugte Antifaschistin wandte sie sich von ihrem Heimatland Deutschland und den sie vergötternden Nazis ab.  Sie bewahrte sich ihre Unabhängigkeit und verkörperte in den Weimarer Jahren den Geist der 20er-Jahre wie im Film Babylon Berlin eines bewunderten mondänen Stils und freien Sexuallebens.

 

Home-Movies und Dokumentarfilm «Marlene» 

In Home-Movies der meist in eleganten Hosenanzügen auftretenden Diva, die im Filmpodium Zürich gezeigt wurden, sieht man Bilder vom Lido von 1937, wo sie Remarque in schwarzer Badehose und seine frühere Ehefrau filmt, die er ein Jahr nach den Aufnahmen noch einmal heiraten sollte, um ihr die Immigration in die Schweiz zu ermöglichen. Eine kurze Einstellung zeigt ein vertrautes und entspanntes Miteinander, wie von einer grossen Familie, die sich um die Dietrich versammelte. Dazu zählte auch ihr Ehemann Rudolf Sieber, ihre 12-jährige Tochter Maria Sieber, ein durchs Bild huschender John F. Kennedy oder Remarque mit Sonnenbrille im Côte d’Azur-Look, in engen weissen Shorts, braungebranntem Body und lässig gehaltener Zigarette.

 

«Ich gehe mich einen Dreck an», warf die Dietrich lakonisch dem Schauspieler Maximilian Schell an den Kopf, als er sie inständig bat, einen Dokumentarfilm über ihr Leben drehen zu dürfen, in dem er die Diva nach ihrem Rückzug aus der Öffentlichkeit Ende der 70-er Jahre interviewte, ohne sie selbst oder ihre Pariser Wohnung an der Rue Montaigne vor die Kamera oder zu Gesicht zu bekommen («Marlene», 1984). Eine nonchalente Untertreibung Dietrichs, denn tausende Seiten Korrespondenzen und persönliche Objekte wurden als Nachlass in der Deutschen Kinemathek archiviert, die unter anderem auch Material über die Beziehung zwischen Remarque und dem Schauspielstar enthält.

 

Marlene Dietrich war sich bewusst, dass nicht sie die Interpretation ihres öffentlichen Images bestimmt und entsprach mit der ihr nachgesagten eisernen Disziplin den Wünschen, die Männer in ihre Figur hineinprojizierten. Dennoch bleibt von ihr in Spielfilmen, Büchern oder ihren eigenen Filmaufnahmen das Bild einer selbstbewussten und Freiheit praktizierenden Frau im Gedächtnis.
 
Von Erich Maria Remarque (1898 in Osnabrück – 1970 in Locarno) ist in erster Linie sein aufrüttelnder Roman über den Ersten Weltkrieg «Im Westen nichts Neues» in Erinnerung, der 2023 als Remake neu verfilmt vier Oscars und den Deutschen Filmpreis erhielt. Eine posthume Würdigung und für die heutige Zeit höchst aktuelle Mahnung.

 
 

Marlene Dietrich (Marie Magdalene Sieber, geborene Dietrich) *27. Dezember 1901 in Berlin-Schöneberg – 6. Mai 1992 in Paris, war eine deutsch-amerikanische Schauspielerin und Sängerin. Charakteristisch waren ihre rauchig-erotische Stimme und die Hosenanzüge, die sie in den 1920er-Jahren für Frauen als Kleidungsstück salonfähig machte. In Hollywood wurde sie von Paramount unter Vertrag genommen, an der Seite von Gary Cooper drehte sie das Drama «Marocco» (1930), für das sie eine Oscarnominierung erhielt. Mit Filmen wie «Shanghai-Express» (1932) und «Der grosse Bluff» (1939) etablierte sie sich als erster deutscher Filmstar in Hollywood. Während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland weigerte sie sich, Nazi-Propaganda zu unterstützen. Stattdessen nahm sie 1939 die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten an und unterstützte die US-Truppen während des Zweiten Weltkriegs mit Konzerten. 1947 verlieh ihr US-Präsident Harry S. Truman die Freiheitsmedaille. Ab den 1950er-Jahren stand die Dietrich überwiegend als Sängerin auf der Bühne. Zu ihren erfolgreichsten Liedern zählen «Ich bin von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt», «Lili Marleen», «Ich hab noch einen Koffer in Berlin» und «Sag mir, wo die Blumen sind».  Anerkennung für ihre schauspielerischen Leistungen erhielt sie für «Zeugin der Anklage» (1957) mit Charles Laughton unter der Regie von Billy Wilder und für «Urteil von Nürnberg» (1961) an der Seite von Spencer Tracy und Maximilian Schell. Ab den 1970er-Jahren lebte sie bis zu ihrem Tod zurückgezogen in ihrer Pariser Wohnung.

 

 
Thomas Hüetlin, geboren 1961, war Reporter beim «Spiegel» sowie Korrespondent in New York und London. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Henri-Nannen-Preis und den Deutschen Reporterpreis. Div. Bücher u.a. «Udo» (mit und über Udo Lindenberg, 2018) und «Berlin, 24. Juni 1922. Der Rathenaumord» (2022).

 

Thomas Hüetlin
Man lebt sein Leben nur einmal

Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque –

die Geschichte einer grenzenlosen Leidenschaft
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024.
Hardcover, 352 S., CHF 37.90.
ISBN 978-3-462-00589-9

 

 

 

«Kissinger & Unseld – Die Freundschaft zweier Überlebender»

 

Im Sommer 1955 treffen auf dem Campus der Harvard University in den Vereinigten Staaten zwei Überlebende aufeinander: Henry Kissinger, der 1938 mit seiner Familie aus dem bayrischen Fürth vor der Judenverfolgung gerade noch rechtzeitig nach Amerika fliehen konnte, und Siegfried Unseld, der sich als Wehrmachtssoldat im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee auf der Halbinsel Krim in Sewastopol nur retten konnte, indem er aufs offene Meer hinausschwamm und nach acht Stunden von einem deutschen Patrouillenboot gerettet wurde. Als er das rettende Ufer erreicht hatte, wurde das Boot von russischen Bomben zerfetzt.

 
In seinem Doppelporträt, basierend auf bisher unbekanntem Archivmaterial, erzählt Willi Winkler die packende Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft des charismatischen, aber auch umstrittenen deutsch-amerikanischen Politikers Henry Kissinger mit dem erfolgreichsten literarischen Verleger der Nachkriegszeit Siegfried Unseld, wo sich Geist und Macht, Literatur und Politik, Deutschland und Amerika im 20. Jahrhundert treffen.
 

Im Juni 1950, als Henry Kissinger in Harvard seinen ersten Abschluss macht, überschreiten nordkoreanische Soldaten den 38. Breitengrad, die Demarkationslinie zu Südkorea. Der Norden wird von China und auch von der Sowjetunion unterstützt, die USA kommen dem Süden zu Hilfe. Es ist ein Stellvertreterkrieg, die erste bewaffnete Auseinandersetzung zwischen dem ehemaligen Weltkriegsverbündeten. In der Tschechoslowakei haben die Kommunisten bereits 1948 die Macht übernommen, China ist seit 1949 kommunistische Volksrepublik. Der Westen befürchtet eine weitere kommunistische Ausbreitung. 
 

 

Diplomatie als Staatskunst

1954 wird Kissinger mit seiner Arbeit «Grossmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs» promoviert und dafür mit dem Senator Charles Sumner Prize für die beste Dissertation des Jahres ausgezeichnet. Das Studium ist für Kissinger eine Fortsetzung des Krieges mit intellektuellen Mitteln. Auch wenn Kissinger jetzt Amerikaner ist, interessiert er sich dafür, wie sich Deutschland entwickelt. Die Westbindung an Amerika wird für ihn nur durch Konrad Adenauer gewährleistet, den der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher «Kanzler der Alliierten» schimpft, weil er das amerikanische über das nationale Interesse stelle. In Deutschland ist man erfreut, dass Kissinger nicht nachtragend ist. 1955 ist auch das Jahr, in dem die Bundesrepublik in die Nato aufgenommen wird.

 

Henry Kissinger hat Siegfried Unseld für sein International Seminar in Harvard im Frühjahr 1955 nicht selbst ausgewählt, das er für kommende Grössen aus aller Welt veranstaltet. Kissinger folgt den Beglaubigungsschreiben von Hermann Hesse und Peter Suhrkamp, die ihm Unseld empfehlen, aber im kulturellen Bereich hätte er keinen besseren Kandidaten finden können. Beide beginnen hier, ihre Netzwerke zu knüpfen, die ihnen den weiteren Aufstieg ermöglichen werden: Kissinger zum Berater amerikanischer Präsidenten, Aussenminister und zum Weltpolitiker, Unseld zu einem der bedeutendsten Verleger der Bundesrepublik. Durch ihre Herkunft hätten sich beide nicht ferner sein können, doch bleiben sie über die Literatur fast ein halbes Jahrhundert miteinander verbunden.
 
Nach seiner historischen Doktorarbeit stürzt sich Kissinger auf das drängendste Thema: Die ehemaligen Alliierten USA und Sowjetunion (UdSSR) stehen sich in einem beständig anwachsenden Atomwaffenarsenal gegenüber. Der drohende Weltuntergang gehört zum Alltag. In den Schulen werden Übungen durchgeführt, wie man sich bei einem Nuklearangriff zu verhalten hat. Bob Dylan beschwört die Apokalypse in seinem Song «A Hard Rain’s Gonna Fall».

 

Ein Exemplar der deutschen Ausgabe von Kissingers Bestseller «Kernwaffen und auswärtige Politik», erschienen 1957, befand sich auch in der Bibliothek von Ingeborg Bachmann, die Siegfried Unseld 1955 an das International Seminar in Harvard begleitete und Kissinger dort kennengelernt hatte. Ihr werde sein Buch vermutlich nicht gefallen, warnt der Autor 1957 die ehemalige Seminaristin, ein bisschen vielleicht doch, hatte er ihr geschrieben. 1953 war ihr Gedichtband «Die gestundete Zeit» erschienen, für den Ingeborg Bachmann den Preis der Gruppe 47 erhalten hatte. 
 
In den folgenden Jahren wird er Ingeborg Bachmann wie auch Franz-Josef Strauss und Helmut Schmidt regelmässig mit Kopien oder Sonderdrucken seiner Artikel versorgen.
Bachmanns Gedicht «Freies Geleit», als Vorlage für den Komponisten Hans Werner Henze 1957 entstanden, wird Kissinger allerdings nicht zu sehen bekommen, obwohl es in sein Spezialgebiet hineinfunkt:

Freies Geleit  (Aria II) /  Die Erde will keinen Rauchpilz tragen, / kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel, / mit Regen und Zornesblitzen abschaffen / die unerhörten Stimmen des Verderbens / Die Erde will ein freies Geleit ins All.

(Auszug)

 

Wie sich die Bilder gleichen, Putin droht nach seinem Angriffskrieg 2022 mit der Atombombe, wenn der Westen der Ukraine zu einem Sieg verhelfe. Der fast dreijährige Krieg, wo jetzt auch Tausende nordkoreanische Soldaten für Russland gegen die Ukraine an der Front kämpfen, hat bereits zu einem Fünftel Gebietsabtretung inklusive der Krim an Russland geführt. Neuerdings wird der Ukraine von Noch-Präsident Joe Biden erlaubt, ihre Raketen weit nach Russland hinein abzufeuern. Der für 2025 gewählte Präsident Donald Trump will den Krieg kurzzeitig beenden und die Ukraine nicht massiv wie bisher unterstützen.
 
Aussenminister und Friedensnobelpreisträger Kissinger

1965 reist Kissinger zum ersten Mal nach Vietnam, wo die Amerikaner gegen den kommunistischen Vietcong kämpfen, der letztlich siegreich aus dem Guerilla-Kampf hervorgehen wird. Kissinger wird 1968 in die einflussreiche Position des Nationalen Sicherheitsberaters des neu gewählten Präsidenten Richard Nixon gewählt. Am 21. Februar 1972 beginnt Nixons Staatsbesuch in China, den Kissinger vorbereitet hatte. 1973 kommt es zum Friedensvertrag von Paris zwischen Nord- und Südvientnam, ausgehandelt zwischen Kissinger und Lê Duc Tho, dem Vertreter Nordvietnams. Am 22. September wird Kissinger Aussenminister der USA. Am 16. Oktober 1973 wird Kissinger und Lé Duc Tho der Friedensnobelpreis zuerkannt. Am 9. August 1974 tritt Nixon wegen seiner Verbindung zur Watergate-Affäre als Präsident zurück.

 

1975 trifft der Verleger des Suhrkamp-Verlages Siegfried Unseld beim Kanzlerfest des neuen Bundeskanzlers Helmut Schmidt in Bonn auf Kissinger, der am 15. Dezember die ihm bereits zwei Jahre zuvor verliehene Goldene Bürgermedaille der Stadt Fürth entgegennehmen wird. 1979 erscheint zur Frankfurter Buchmesse der erste Band von Kissingers Memoiren.
 
Eine Begegnung in Zürich mit Siegfried Unseld blieb mir in Erinnerung, es muss etwa 1990 gewesen sein, bei einer Lesung des Suhrkamp-Autors Silvio Blatter in der Buchhandlung Beer an der St.-Peter-Hofstatt. Goethe besuchte im Jahr 1779 an diesem lauschigen Ort Johann Caspar Lavater. Wir standen mit einer Clique seinerzeit an einem Sommerabend an der Buchvernissage von Silvio Blatter («Das blaue Haus») draussen beim Apéro; ich kam ins Gespräch mit Unselds zweiter Frau Ulla Berkéwicz, die er 1990 geheiratet hatte, und der Zürcher Lyrikerin Magadalena Vogel, während der hünenhafte Unseld unserem Frauengespräch interessiert und etwas ungeduldig zuhörte. Die traditionsreiche Buchhandlung am idyllischen Platz in der Altstadt von Zürich musste 2021 ihre Pforten schliessen. Im Vortragssaal des Lavaterhauses gegenüber der Kirche St. Peter hatte ich 2015 zusammen mit Eugen Gomringer und Pfarrer Ulrich Greminger mein Buch mit konkreter Poesie «Die Anatomie der Worte» vorgestellt.

 
Ulla Berkéwicz, Schauspielerin und Schriftstellerin, war seit 1982 Suhrkamp-Autorin. Im Frühjahr 1992 erschien ihr Roman «Engel sind schwarz und weiss», der sich in Teilen als die Jugendgeschichte ihres Mannes liest. Unseld schickt das Buch zusammen mit seinem eigenen Buch über «Goethe und seine Verleger» sowie die Zeitschrift «Du» über Uwe Johnson an Kissinger. Anfang Mai 2000 bedankt sich Kissinger bei seinem Freund Unseld für eine weitere Büchersendung. Wie eng der Suhrkamp Verlag und Kissinger zusammengehörten, zeigte sich noch einmal bei dem Diner, das Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 27. Mai 2018 anlässlich von Kissingers 95. Geburtstag ausrichtete. Kissinger hatte zu diesem Zeitpunkt fast alle überlebt, seine Feinde wie seine Freunde. Siegfried Unseld war 2002 gestorben, 2015 auch Helmut Schmidt.

 
Ulla Berkéwicz übernahm nach dem Tod Siegfried Unselds am 26. Oktober 2002 als Geschäftsführerin von 2003 bis 2015 den Suhrkamp-Verlag und überführte ihn 2010 von der prachtvollen Villa in Frankfurt am Main nach Berlin, was viele prominente Hausautor:innen bedauerten. 2024 hat Berkéwicz-Unseld den renommierten Verlag in neue Hände übergeben. Am 4. Oktober 2024 wurde bekannt, dass Dirk Möhrle mit Wirkung zum 1. November 2024 alleiniger Eigentümer des Verlags wird.
 
Bis heute bleibt es eine Leistung des Suhrkamp-Verlags von Siegfried Unseld, die deutschsprachige Nachkriegsliteratur durch Werke von Hermann Hesse, Bertolt Brecht, Max Frisch, Hans Magnus Enzensberger, Thomas Bernhard u.a. im Ausland zu etablieren, wodurch Suhrkamp zum führenden Haus avancierte. Der Verlag widmete sich auch der Dichtung und publizierte mit Paul Celan und Nelly Sachs zwei der bedeutendsten Lyriker des Jahrhunderts. Suhrkamp verlegte die von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene Gedichtanthologie Museum der modernen Poesie, die bei Presse und Publikum für Aufsehen sorgte. Die Dramen Die Verfolgung und Ermordung des Jean Paul Marat von Peter Weiss und Peter Handkes Publikumsbeschimpfung gaben dem Theater neue Impulse.
 

In den 1970er Jahren ergänzten u.a. Peter Huchel, Adolf Muschg und Erica Pedretti das Programm. Ingeborg Bachmann erschien mit ihrem Roman Malina das erste Mal bei Suhrkamp. Zwei der wichtigsten Autoren jener Zeit waren Wolfgang Koeppen und Robert Walser. Jurek Beckers Buch Jakob der Lügner erschien, und Ulla Berkéwicz veröffentlichte ihr Erstlingswerk Josef stirbt. Der später als Kultbuch bezeichnete Roman Irre von Rainald Goetz sowie Ralf Rothmanns Erzählungen Messers Schneide wurden neben Büchern von Werner Fritsch, Patrick Roth und Norbert Gstrein publiziert. Ende der 1990er Jahre gab die Pop-Literatur neue Impulse, die Thomas Meinecke und Andreas Neumeister bei Suhrkamp vertraten.

 

Am 29. November 2023 stirbt Henry Kissinger in Kent im amerikanischen Bundesstaat Connecticut. Bis zuletzt war er ein gern gesehener Gast in Talkshows und gefragt als politischer Beobachter.
 

Eine posthume Würdigung erfuhr Kissinger mit dem Buch «Genesis» mit einem Gespräch mit dem ehemaligen Google-CEO Eric Schmidt und dem Microsoft-Manager Craig Mundie über die Künstliche Intelligenz KI, in dem er kurz vor seinem Tod warnte, die Menschheit müsse sich auf eine Zukunft vorbereiten, in der KI-generierte «Übermenschen» die Kontrolle über die Erde erobern als existentielle Bedrohung der Menschheit. Der Band erschien Ende November 2024 in den USA bei Little, Bown and Company.
 

Das lesenswerte Buch «Kissinger&Unseld» bietet einen exzellenten und erhellenden Aufschluss über einen schillernden Kosmos der Nachkriegszeit, der bis in die Gegenwart wirkt.
 

 

Willi Winkler, geboren 1957, war Redakteur der «Zeit», Kulturchef beim «Spiegel» und schreibt seit vielen Jahren für die «Süddeutsche Zeitung». Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen «Luther. Ein deutscher Rebell», «Das braune Netz» und «Herbstlicht. Eine Wanderung nach Italien». Über sein Reisebuch «Deutschland, eine Winterreise». Willi Winkler wurde mehrfach für sein Schreiben ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ben-Witter-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus und dem Michael-Althen-Preis.

 

Willi Winkler

Kissinger&Unseld

Die Freundschaft zweier Überlebender

Rwowohl Verlag, Berlin 2024

Hardcover, 302 S., CHF 37.90

ISBN 978-3-7371-0219-3

 

 

 

«Angela Merkel: Freiheit – Erinnerungen 1954 – 2021»

 

16 Jahre trug die promovierte ostdeutsche Politikerin und Physikerin Angela Merkel die Regierungsverantwortung für die Bundesrepublik Deutschland. Sie führte das Land durch zahlreiche Krisen und prägte mit ihrem Handeln und ihrer Haltung die deutsche und internationale Politik und Gesellschaft. Nun sind ihre langerwarteten Erinnerungen als Bundeskanzlerin erschienen.

 

Doch natürlich wurde Angela Merkel nicht als Kanzlerin geboren, wie sie selbst einmal sagte. In ihren gemeinsam mit ihrer langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann verfassten Erinnerungen schaut sie zurück auf ihr abwechslungsreiches Leben in zwei deutschen Staaten: 35 Jahre in der DDR und 35 Jahre im wiedervereinigten Deutschland.

Persönlich wie nie zuvor erzählt sie von ihrer Kindheit, Jugend und ihrem Studium in der DDR und dem dramatischen Jahr 1989, in dem die Mauer fiel und ihr politisches Leben begann.

Sie lässt uns teilhaben an ihren Treffen und Gesprächen mit den Mächtigsten der Welt und erhellt anhand bedeutender nationaler, europäischer und internationaler Wendepunkte anschaulich und präzise, wie Entscheidungen getroffen wurden, die unsere Zeit prägen. Ihr Buch bietet einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht und ist ein entschiedenes Plädoyer für die Freiheit.
 

Den ukrainischen Nato-Eintritt 2008 hielt sie für falsch: «… Politik nach dem Prinzip Hoffnung, die nicht beachtet, wie die Zeit nach der Verabschiedung des Aktionsplans bis zu einer Nato-Mitgliedschaft aussieht, das konnten Jahre sein. Putin hätte diesen Zwischenstatus nicht als Abschreckung tatenlos hingenommen. Und dann? Wäre es 2008 vorstellbar gewesen, dass die Nato-Staaten militärisch eingegriffen hätten?» Auch zu der Entscheidung, nach der Annexion der Krim 2014 Nord Stream 2 nicht gestoppt zu haben: «Ich habe es als eine meiner Aufgaben gesehen, für die deutsche Wirtschaft billiges Gas zu bekommen. Wir sehen jetzt, welche Folgen teure Energiepreise für unser Land haben. Für den Abbruch des Gashandels mit Russland hätte ich keine politischen Mehrheiten gehabt und schon gar keine Zustimmung in der Wirtschaft. Ich hielt Nord Stream 2 auch politisch für sinnvoll. Wie konnte man in der neuen Ordnung nach dem Kalten Krieg mit einem wie Putin, den manche Historiker als Revisionisten bezeichnen, Verbindungen halten? Durch den Versuch, ihn am Wohlstand teilhaben zu lassen». Die Schuldenbremse, an der die Ampelregierung letztlich scheiterte, würde sie reformieren, um dringende Investitionen in Deutschland zu tätigen, sagt sie in einem Interview und widerspricht hiermit der bisherigen gängigen CDU/CSU-Haltung.

 
Angela Merkel hatte mit zwei kurzen Sätzen ihren Wiedererkennungswert ins Bewusstsein der deutschen Politik implantiert: «Sie kennen mich» und «Wir schaffen das». Das konnte vor ihr nur Konrad Adenauer mit «Keine Experimente». In den ersten Talk Shows nach Erscheinen ihrer Biografie hiess es, sie sei sich treu geblieben, es sei nüchtern geschrieben und enthielte keine aufregenden Intimitäten. Sie blieb auch hier unprätentiös und bei ihrer wissenschaftlich geprägten Haltung. Ihre Politik hat sie weiter verteidigt, was ihr den Vorwurf mangelnder Selbstkritik einbrachte. Die Streitpunkte Putin, Nord Stream 2 wirken nach, doch ist unbestritten, dass die deutsche Wirtschaft ihre Energiepolitik unterstützte und auch forderte. Merkel wollte zugleich mit diesen Wirtschaftsabkommen Putin bei der Stange halten, um eine weitere kriegerische Eskalation nach den Minsker Gesprächen zu verhindern. Wie man heute weiss, hatte Putin von Anfang an andere Pläne, die er nach Merkels Ausscheiden aus der Politik 2022 umsetzte mit einem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ihr Buch hätte sie für die jungen Leute geschrieben, sagte sie in einem Interview, die mehr über die Zeitgeschichte erfahren wollen und vielleicht in die Politik gehen wollen.

 

Sicher ist, dass Angela Merkel (in Erinnerung bleibt auch ihr Handzeichen «Raute») die angestaubte CDU reformierte, womit sie auch für viele Wählerinnen wählbar wurde. Jetzt will Kanzlerkandidat Friedrich Merz, ihr damaliger Kontrahent, nach dem Bruch der Ampel-Koalition mit SPD, Grünen und FDP, 2025 die Zeit zurückdrehen und die CDU wieder in die alte Traditionspartei zurückführen. Ob das gelingt, wird die Zukunft zeigen. Denn die Zeit ist eine andere in einer von AfD und BSW gespaltenen Gesellschaft. Nach der Flüchtlingskrise 2015 entstanden die Pegida und die AfD, die Merkel heftig bekämpften. Dass sie es als Ostdeutsche als Bundeskanzlerin geschafft hatte, gereichte ihr nicht zum Vorteil und wurde im Osten nicht honoriert. Im Gegenteil, die Spannungen nahmen kontinuierlich zu, die Ostdeutschen sahen sich in der Opferrolle, obwohl viele Ostdeutsche sich in der Bundesrepublik längst einen Namen machten und angekommen waren, wie u.a. die Schauspieler Jan Josef Liefers, Anna Loos, Nadja Uhl, Liv Lisa Fries, Katharina Thalbach, Ulrich Mühe, Corinna Harfouch, Inka Bause, Sandra Hüller, Henry Hübchen, Thomas Kretschmann, Katrin Sass, Uwe Kokisch, Regisseur Andreas Dresen. Für sie war die DDR kein Thema mehr, welches gegenwärtig von rechtspopulistischen Politikern der AfD nostalgisch verharmlost wird.

 

Angela Merkel wurde am 21. Januar 2020 in Berlin der Henry A. Kissinger-Preis von der American Academy verliehen; sie bedankt sich für die Ehre in Anwesenheit von Kissinger mit u.a. folgenden Worten:

 

«Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich Henry Kissinger das erste Mal begegnet bin. Aber Folgendes, finde ich, ist so typisch für ihn: Er war – und ist es bis heute – einfach immer neugierig.
Wir sind in Deutschland in einem ganz spannenden Jahr. Wir bewegen uns nämlich zwischen dem 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November des vorigen Jahres und dem 30. Jahrestag der Wiederherstellung der Deutschen Einheit am 3. Oktober dieses Jahres. Und plötzlich kommen ganz viele Dinge wieder hoch – bei Menschen, die diese Einigungsphase durchlebt haben, insbesondere in den neuen Bundesländern, in der ehemaligen DDR. Und wir fangen wieder an zu fragen: Haben wir genug miteinander gesprochen, haben wir uns genug ausgetauscht, verstehen wir genug von dem jeweiligen Leben? Und ich sage: Ich hätte es gut gefunden, wenn sich mehr so verhalten hätten wie Henry Kissinger zu Beginn meiner politischen Arbeit als Frauen- und Jugendminister».

 

Die Aufarbeitung der Geschichte dauert an wie auch eine Auseinandersetzung mit den Prämissen und Reflexionen der ersten deutschen Bundeskanzlerin. Eine Zeitgeschichte mit zwei deutschen Staaten, wie sie historisch einmalig ist. 

 

 

Angela Merkel, von 2005-2021 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, war die erste Frau im mächtigsten Amt des Landes. 1954 in Hamburg geboren, aufgewachsen in der DDR in Brandenburg, wo sie Physik studierte und zum Dr. rer. nat. promovierte, wurde sie 1990 in den Deutschen Bundestag gewählt. Von 1991 bis 1994 war sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, von 2000 bis 2018 Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. 2021 beendete sie ihre aktive politische Laufbahn.

(siehe auch Archiv Literatur&Kunst 01/2022: «Ralph Bollmann: Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Zeit».

 

 

Angela Merkel

mit Beate Baumann

Freiheit.

Erinnerungen 1954 – 2021

Kiepenheuer & Witsch, 2024

Geb., 736 S., zwei 4-farbige Bildteile à 16 Seiten

CHF 54.90. €  42.

ISBN 978-3-462-00513-4

 

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