
Buchcover Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben, Rowohlt-Verlag, 2025

Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter
«Sandra Richter: Biographie Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben»
Von Ute Seiderer
«Ich zu sagen, war gewagt, war eine Übertreibung», meinte Rilke ehrfürchtig und staunend im Angesicht Nordafrikas. Ein auf den ersten Blick erstaunliches Kapitel in der Biographie von Sandra Richter, in dem es um Rilkes orientalische Reisen nach Algerien und Ägypten 1910/11 geht, von denen er sich eine innere Abkehr westlich geprägter Selbstbestimmtheit erhoffte.
Erstaunlich deshalb, weil man dem als magisch, mysteriös oder schwer zu decodierenden Autor sein Ich beziehungsweise Ego als Mittelpunkt seines Schaffens zuschrieb. Rilkes Ich, gezeichnet von Erlebnissen, Erfahrungen, Hoffnungen oder Selbstzerwürfnissen in eine literarische Form gegossen, bildete einen biographischen roten Leitfaden durch sein Werk, ob in lyrischer, prosaischer oder essayistischer Weise.
Schreiben als Selbsttherapie
«Schreiben als Selbsttherapie», nennt es die Biographin Sandra Richter, da Rilke seine Ängste und Neurosen nicht professionell behandeln lassen wollte, aus Angst, als eine «desinfizierte Seele» (NDR, 14.02.2025, Interview mit Martina Kothe) seine dichterische und schriftstellerische Fähigkeit zu verlieren.
Die Biographie umschreibt den Dichter Rainer Maria Rilke zum 150. Geburtstag und den kommenden 100. Todestag 2026. Der Literaturwissenschaftlerin Sandra Richter, Leiterin des Marbacher Literaturarchivs, ging es darum, Rilke als lebendigen, gesellschaftsfähigen und finanzbegabten Schriftsteller zu porträtieren, abseits verstaubter und oft mystifizierender Porträts, in denen Rilke als weltabgewandter Dichter erscheint (Ausnahme: Gunnar Deckers Rilke-Biographie 2023).
Das Literaturarchiv in Marbach konnte 2022 einen umfangreichen Rilke-Nachlass erwerben, was der Biographin einen Heimvorteil brachte: ‚Die frühen Morgenstunden im Archiv, allein und ohne die forschenden Gäste herum, verschafften die Gelegenheit, tief und ungestört in die Materie vorzudringen‘ (NDR, 14.02.2025, Interview mit Sandra Richter).
Vor allem die detaillierte Einarbeitung von Briefzeugnissen prägt Richters Biographie ‚Er erklärte alles zum Werk, auch seine Briefe‘ (Richter, 12). Für viele Lebenssituationen, die in Form von 30 Biographema nach dem Vorbild Roland Barthes skizziert wurden, kleine Schlüssel zum Leben eines Menschen, die auch einzeln gut lesbar sind, stehen kurze, aber anschauliche Briefexzerpte Pate. Das Interesse an Rilke, das schon Richters Studienzeit prägte, macht sich hier sprachlich bemerkbar: Nicht selten kommt man dem Sprachduktus Rilkes selbst nahe und bemerkt eine gewisse literarische Begabung der Autorin, besonders wenn sich Rilkes Begrifflichkeiten in die sachgewollte Wiedergabe von Lebensumständen und Ereignissen einschleichen.
Nicht zuletzt wollen wir in einer Biographie etwas Neues über Autoren erfahren, was dazu anregt, weitere Bücher zu besorgen, die wir noch nicht gelesen haben. Und hier tappt man bei Rilke schon in die erste Fallgrube: Immer wieder wird er über sein Verhältnis zu Frauen definiert, angefangen bei seiner Mutter, die ihn in Mädchenkleidung steckte und anhimmelte, über sein Verhältnis zu adligen Mäzeninnen, von denen er sich über Jahre aushalten liess (wenn ihm nicht sein Verleger Anton Kippenberg wieder finanziell beistand und unterstützte, wie auch Rilkes Frau, die Bildhauerin Clara Westhoff und die gemeinsame Tochter Ruth), bis zu seinen Versuchen, Beziehungen ausserhalb eines reinen Freundschaftsverhältnisses zu etablieren, was oft misslang, weil er mehr Rückzugszeit für das Schreiben brauchte, als gewünscht oder toleriert wurde, sich zeitlebens über diese Arbeit definierte und grundsätzlich gern allein war (auch als ersehnte Einsamkeit).
Daran scheiterte auch seine Rolle als Familienvater; zu seiner Tochter Ruth hielt Rilke den Kontakt hauptsächlich in Briefform aufrecht («Briefvaterschaft», nennt es Richter). Das mag aufschlussreich sein, wenngleich Richter sich auch in der Dauerschleife des ausgebreiteten Diskurses über Rilke und seine Frauen, – vor dem Kontext des Frauenbildes im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts -, verfangen hat. Die Kenntnis von Rilkes umfangreicher Korrespondenz mag dazu beigetragen haben.
Kein politischer, aber auch kein apolitischer Autor
Was mir in dieser Biographie fehlt, sind Rilkes politische Haltungen, womöglich sind sie schwer fassbar und würden eine zweite Fallgrube darstellen. Richter konstatiert, dass Rilke «kein politischer, aber auch kein apolitischer Autor» gewesen sei; eine genaue Position liesse sich nicht eindeutig zuordnen.
Sie bezeichnet ihn als «politische[n] Nostalgiker und rückwärtsgewandten Utopist[en]». Dies nachzuvollziehen fällt schwer angesichts seiner Lebens- und Schaffenszeit vor dem Ersten Weltkrieg und zwischen den Kriegen, in denen politisch wie gesellschaftlich so viel passierte, dass vielen Schriftstellern der Atem dabei stockte und die Feder durchging. Rilke und seine Zeitgenossen, so Richter, «wollten verstehen, wie und warum ihr Europa sich brutalisiert hatte». Doch wird hier im Falle Rilkes dieser Frage nicht wirklich nachgegangen, was für heutige Leser:innen spannend wäre, zumal Rilke vielseitig vernetzt war. Er schien in finanziellen wie künstlerischen Anliegen ein ausgesprochen erfolgreicher Networker gewesen zu sein.
Wie erlebte Rilke den aufkommenden Faschismus? Wie ging er literarisch damit um? Wie positionierte er sich angesichts der ideologischen und politischen Spannungen der 1910er und 20er Jahre, die er auch in europäischen Grossstädten verbrachte, in Paris, Prag, Berlin und München. Warum distanzierte er sich nicht von den Vorboten faschistischer Ideologien wie jenen im Umkreis des Münchner ‚Lebensphilosophen‘ Alfred Schuler, der einer ‚orphischen‘ Kosmogonie nachhing und den er sich zum Lehrer und Meister erklärte, während er mit dem aufgeklärten Soziologen Georg Simmel, dessen Vorlesungen und Seminare er an der Berliner Humboldt Universität besuchte, weniger anfangen konnte.
Das offene Leben
Der Terminus «Das offene Leben» taucht in der Biographie wiederholt auf, bezeichnet ein (sein) Leben, das einerseits empfindlich offen steht, zum Beispiel angesichts seiner fast traumatischen Grossstadterlebnisse in Paris, die er im Roman «Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge» (1910) verarbeitet hat, als sensorisch überfordernde, nervenaufreibende und beängstigende Alltagserfahrungen, geprägt durch Technik und die neuen Geschwindigkeiten:
«[D]ie Wagen fuhren durch mich durch, und die welche eilten, machten keinen Umweg um mich und rannten voll Verachtung über mich hin wie über eine schlechte Stelle in der altes Wasser sich gesammelt hat» (Brief an Lou Andreas-Salomé vom 18.07.1903).
Andererseits scheint er Schulers Vorstellungen von einem «freie[n], offene[n], ungebrochene[n] Leben» (Richter, 266) zu repräsentieren, das dem zwanghaften und entfremdeten Leben gegenüberstehe, sich aber ausgerechnet durch die Swastika, das Hakenkreuz, symbolisieren lasse.
Deren Rotationsbewegungen seien nach Schuler ein Zeichen für «ursprüngliche und erotische Vitalität, Hingabe und Rausch, für das ‚offene Leben‘» (ebd, 268). In diesem Sinne sollte die Welt genesen und zum «offenen Leben» zurückfinden (was Richter als «rückwärtsgewandte Utopie» bezeichnet).
[Hölderlins Vers «Komm, ins Offene! Freund!» aus dessen Elegie Gang aufs Land An Landauer (um 1801), der Rilke prägte, klingt hier ausserdem an.] Dass die Toten jederzeit in das «offene Leben» eintreten könnten (das Totenreich erschien Schuler als das «einzig unerhörte […] Dasein»; (Richter, 268) ermöglichte wiederum die Rechtfertigung und sogar Verherrlichung des Sterbens im Ersten Weltkrieg.
Wenn also der Terminus vom ‚offenen Leben‘ im Untertitel der Biographie gesetzt ist, wie weit geht dann Rilkes Prägung durch präfaschistisches Denken? Dass er kein Pazifist war und den Dienst an der Waffe grundsätzlich nicht ablehnte, aber alle Hebel in Bewegung setzte, um als Soldat nicht an die Front gehen zu müssen, was ihm aufgrund seines weitreichenden und kulturell wie politisch agierenden, einflussreichen Netzwerkes seiner Unterstützer letztlich gelang, erfahren wir im Kapitel ‚Kampf um die Freistellung vom Kriegsdienst‘.
Aus der Überforderung durch den Krieg und in der Hoffnung auf sein Ende wollte Rilke reiner Gefühlsmensch sein: «mir, der ich nur mit den Kapillaren des Gefühls in allem verästelt und verhaftet bin, ist es überhaupt verwehrt, mich überzeugend zu machen». (Richter, 284).
Rilke als Person bleibt letztlich schwer fassbar, seine Haltung in vielen Dingen unbestimmt. Vielleicht aber machte ihn, den ewig Reisenden ohne festen, konstanten Wohnsitz und stets um die eigene Gesundheit kreisend, gerade das aus: das Fehlen eigener Standpunkte, die im Laufe des Lebens an Festigkeit gewinnen, seine Vorliebe und Leidenschaft für das Dunkle und Obskure. Nur bleibt er dann als Lyriker interessanter als der fokussiert biographische Ansatz. Trotz allem ist Sandra Richters Biographie informativ.
Sandra Richter, geboren 1973 in Kassel, seit 2008 Professorin für Neuere deutsche Literatur in Stuttgart, seit 2019 Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Veröffentlichung: Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur (2017).
Sandra Richter
Rainer Maria Rilke oder
Das offene Leben
Eine Biographie.
Insel Verlag, Berlin 2025,
2. Auflage, 356 S., div. Abb.,
CHF 39.90
ISBN 978-3-458-64482-8